Patrick Junker

Kurze Beine, große Schritte

„Alles findet einen halben Meter über einem statt. Sozusagen in einer höheren Etage. Treppen, Automaten und Regale sind Hindernisse, auf die man täglich stößt.“

Die gelernte Maßschneiderin Nadine Feist, 21, steht auf dem Schneidetisch. Gleichmäßig befestigt sie das Schnittmuster auf dem Stoff. Würde Nadine nicht auf dem Tisch stehen, könnte sie im besten Fall den Stoff entlang der Tischkante bearbeiten. Nadine ist 1,30m groß, damit eine von etwa 100.000 Kleinwüchsigen in Deutschland. In ihrer Familie ist sie der einzige Fall von Kleinwuchs. Gerade zieht sie mit ihrem Freund Michael, der auch kleinwüchsig ist, in eine gemeinsame Wohnung. Die Suche hat sich als außergewöhnlich schwer erwiesen. Kleinwüchsige leiden immer noch darunter, dass die Gesellschaft ihnen nichts zutraut: Erst als Nadines Mutter die beiden bei der Wohnungsbesichtigung unterstützt, bekommen sie eine Zusage. Aber auch der ganz normale Alltag bleibt eine Herausforderung. Alles findet einen halben Meter über einem statt. Sozusagen in einer höheren Etage. Treppen, Automaten und Regale sind Hindernisse, auf die man täglich stößt. Es ist die Gesellschaft, die Nadine das Gefühl vermittelt, „behindert“ zu sein. Am Wochenende geht sie selten in Clubs und Diskotheken, denn wenn sich Ellenbogen, Zigaretten und Getränke auf ihrer Kopfhöhe befindet, macht Tanzen keinen Spaß.

Der Grund für mangelndes Selbstbewusstsein bei Kleinwüchsigen liegt daran, dass sie zu Hause zu sehr geschont werden. Anders bei Nadine, sie ist zwischen drei normal großen Geschwistern aufgewachsen. Sie musste damit klar kommen, dass die vier Jahre jüngere Schwester Alischa ihr über den Kopf gewachsen ist. Ihre Entscheidung, sich als kleinwüchsige Frau in der Modewelt zu bewegen, erzählt Einiges über ihren Charakter: Nadine stellt sich gerne vor Herausforderungen.

Der Kleinwuchs wurde bei Nadine zwei Wochen nach der Geburt festgestellt. Die Diagnose lautet Achondroplasie, ein relativ großer Kopf und kurze Arme und Beine sind charakteristisch für diese Form des Kleinwuchses. Diese Spontanmutation des Wachstumgens kommt bei etwa 4 von 10.000 Geburten vor. Das Knochengewebe wird in der Entwicklung gestört, was zu der Wachstumsstörung und zur Verschiebung der Körperproportionen führt. Wird Kleinwuchs frühzeitig erkannt, ist das häufig Grund für eine Abtreibung. Viele vergessen dabei aber, dass Kleinwuchs eine rein körperliche Behinderung ist, die einen nicht daran hindert, ein selbstständiges Leben zu führen. Durch die zahlreichen Abtreibungen wird Kleinwüchsigen das Gefühl gegeben, nicht erwünscht zu sein.

Bis zu ihrem 14. Lebensjahr musste Nadine alle sechs Monate von Stuttgart nach Mainz fahren, um in einer Spezialklinik den Spinalkanal untersuchen zu lassen. Werden Probleme dort nicht rechtzeitig erkannt, kann es zu einer Hirnwasser Stauung kommen, was zu einer Lähmung und starken Kopfschmerzen führen kann. Mittlerweile hat Nadine etwa 20 Operationen an den Beinen hinter sich. Dadurch ist sie 8cm größer und weniger in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt.

Heute arbeitet sie in dem neugegründeten Unternehmen „wasni – wenn anders sein normal ist“. Dort ist sie seit dem ersten Tag dabei und will gemeinsam mit dem Gründer Daniel Kowalewski einen behindertengerechten Arbeitsplatz schaffen. Nach einem Jahr Berufserfahrung möchte sie ihren Meister machen, um dann im Unternehmen SchneiderInnen auszubilden.

Patrick Junker (*1991 in Stuttgart) kam nach einer Ausbildung im Einzelhandel durch Freunde zur Fotografie. Nach einer Reise durch Mexiko und Guatemala begann er im September 2014 das Studium Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an der Hochschule Hannover.

www.patrick-junker.com