
John und Billy sind Stammgäste auf New Yorks Pferderennbahn Aqueduct. In den letzten 30 Jahren verbrachten sie hier, in einem dreistöckigen Zementtempel voller Wettzettel, Zähler und verklebten Tischen, wie viele andere ihrer Generation, den Großteil ihrer Zeit. Täglich wandern sie hoch, zum dritten Stock, weg von den lauten Italo-Buchhaltern, von den streitenden Jamaikanern, die schon wieder von einem falschen Hinweis ausgetrickst wurden, und weg von den fluchenden Dominikanern, welche unkonzentrierte Rennreiter für deren Verlust verantwortlich halten. Sie alle wissen, dass es hier, im westlichen Queens, zwischen verlassenen Parkplätzen und Autobahnübergängen, nichts mehr zu gewinnen gibt. Das Geld bleibt im Aqueduct – und trotzdem kommen sie immer wieder zurück.
In der über hundertjährigen Geschichte der Pferderennbahn drohte oftmals das Aus, aber nichts gefährdete ihr Überleben so sehr, wie das nagelneue Casino nebenan und das sich ausbreitende Online-Wettspiel. Jedes Jahr scheint das Ende näher zu kommen. Trotzdem ist die alte Generation immer wieder hier, um zu wetten, wie früher, ohne zu wissen, ob das Gebäude nächstes Jahr noch stehen wird. Neulinge hingegen füttern unkomplizierte Slot Machines mit Dollarscheinen, in der Hoffnung, nicht wie diejenigen zu enden, die um sie herum sitzen.
An der lauten Pferderennbahn gilt es, den Respekt der Anderen zu ergattern, das Rätsel des Rennens zu lösen; Glück spielt dabei die größte Rolle, aber auch mit Kalkül und Beobachtungsgabe wird aus manchem ein Sieger. Jede Ethnie ist hier vertreten und jeglicher Dialekt vermischt sich mit dem Pferderennbahn-Englisch, ergänzt durch hunderte Fachbegriffe für jede Variable des Spiels. Diese Multikultur hat nicht nur eine eigene Sprache entwickelt, sondern hat auch unterschiedlichste Mitglieder, die in einem typisch amerikanischen ‚Melting Pot’ nebeneinander existieren, in einer permanenten Balance zwischen sportlichem Wettbewerb und gegenseitigem Respekt.
In einem früheren Fotoprojekt widmete sich Theo Zierock bereits dem Untergang der Pferderennkultur in Italien. Einem Land, in dem mittlerweile der Großteil der Pferderennbahnen geschlossen worden sind. New York droht bald Ähnliches: Die Schließung der altehrwürdigen Institution Aqueduct, bestehend seit 1894, Teil der langjähriger Geschichte und Lebenskultur New Yorks. Dieses Projekt dokumentiert einen untergehenden Mikrokosmos der Metropole. Erzählt wird die Geschichte von einsamen, alten, rauen New Yorkern, die gegen den Strom der Zeit schwimmen und dem stetig wandelnden System unterliegen.
Theo Zierock, geboren 1990 in Bozen, ist Dokumentarfotograf und Fotojournalist. Während des Studiums der Politikwissenschaft in Zürich arbeitete er als Fotograf für die “Zürcher Studentenzeitung” und „Agence France-Presse“ in New York. Seit 2011 arbeitet er an dem Langzeitprojekt “Zerfall der italienischen Pferderennkultur”. Nach dem Studienabschluss 2013 Studium des Fotojournalismus am International Center of Photography, ICP, New York. Theo Zierock lebt in New York.