18. – 22. Februar 2019
How is Life?
von Hannes Jung
Alles Leben eint der Tod. Als junger Mensch geht man davon aus alt zu sterben. Vielleicht krank, aber keinesfalls jetzt. Ein Suizid wirft deswegen für viele Menschen Fragen nach dem Warum auf. Nur selten finden die Hinterbliebenen eine Antwort darauf.
Litauen hat die höchste Suizidrate in Europa und gehört zu den Ländern mit den höchsten Raten weltweit. Im Verhältnis zur Bevölkerung des Landes nehmen sich hier dreimal so viele Menschen das Leben wie in Deutschland. Im ländlichen Raum steigt die Rate sogar auf das Neunfache. Betroffen sind vor allem Männer zwischen 40 und 50 Jahren.
Alkoholismus, Arbeitslosigkeit, Armut und Perspektivlosigkeit – und viele Fälle, in denen diese Gründe als Erklärung unzureichend sind. Denn jeder Suizid ist individuell. Kein Ausdruck von persönlicher Freiheit, sondern eine Reaktion auf die vorausgegangenen Lebensumstände. Oftmals motiviert durch mangelnde Hoffnung oder Krankheit, beeinflusst von den äußeren Bedingungen und der sozialen Umwelt.
Aus der Kombination von Fotografien und persönlichen Berichten entsteht ein fragmentarisches Bild – eine vielleicht exemplarische Erzählung über das Thema Suizid, seine Ursachen und Folgen.
Der Wind selbst kann nicht fotografiert werden. Sehr wohl aber seine Wirkung, wie er das Meer und die Bäume bewegt und verändert. stop
Ich sitze genau an dem Platz, an dem ich saß, als ich deine Nachricht bekam und erfuhr, dass du dich umgebracht hast. Das ist der Ort an dem ich zitterte und gebetet habe, dass es nicht wahr ist.
Es tut mir leid, dass ich nicht die perfekte Tochter bin. Ich WILL, dass du weißt, dass ich dich liebe. Ich vermisse dich schrecklich. Manchmal rufe ich noch deine Nummer an oder warte auf deinen Anruf am Sonntag. Manchmal rolle ich mich in meinem Bett zusammen und weine, weil ich dich so sehr vermisse. Warum hast du gesagt, du wärest immer an meiner Seite? Zu wem soll ich jetzt gehen, wo du weg bist?
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Ich denke an dich, wenn ich Fahrrad fahre – du gabst mir die Freiheit, es zu fahren =) DANKE. Ich bin glücklich, aber ich vermisse dich so sehr. Ich habe keinen Vater mehr, und ich bin wütend auf dich. Du hast mich verlassen. Ich liebe dich und träume oft von dir. Du bist mein Papa, Lebe wohl. Ich liebe dich.
Edita, Kaunas, 21. Mai, 2016
Während ich für die „Youth Line“ (Sorgentelefon) arbeite, denke ich oft über das Phänomen des freien menschlichen Willens nach. Inwieweit ist Suizid eine impulsive, mechanische Reaktion auf Leiden und inwieweit ist es die Entscheidung einer Person, aufzugeben? Würden sich alle Menschen angesichts von enormem Leid umbringen?
Ich weiß es nicht… Aber mehr und mehr habe ich das Bedürfnis, jede menschliche Entscheidung zu respektieren – wie auch immer sie ausfallen mag. Ihnen beizustehen und sie zu respektieren.
Antanas, 10. Februar, 24. Mai 2016
Als ich meinen Mann in den Brunnen steigen sah, habe ich große Angst bekommen, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was ich gedacht habe. Als ich ihm sagte, dass er wieder herauskommen solle, sagte er mir, dass er es nicht länger ertragen könne.
Mit Hilfe meiner Mutter und Tochter zogen wir ihn heraus.
D., Katiliškiai, 20. Mai 2016
Ein Regal voller alkoholischer Getränke in einem kleinen Einkaufsladen in Varena. Laut WHO ist Litauen eines der Länder mit dem weltweit höchsten pro Kopf Konsum von Alkohol. Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg der Konsum massiv an: Stress und Frustration über die sowjetische Besatzung wurden oft mit Alkohol kompensiert.
Am Schwierigsten ist es, wenn man Anderen etwas über sich erzählen soll. Die Frage, was Andere von mir denken, macht mir immer Angst. Darum schiebe ich alles auf und schlage Zeit tot, nur damit ich nicht schreiben muss. Es tut mir weh, zuzugeben, dass mein Vater und meine Schwester sich umgebracht haben, dass ich keine Eltern oder Familie habe, dass ich die Welt bereise wie eine verlorene Sternschnuppe.
Was bedeutet mir das Foto? Hoffnung.
Hoffnung, dass unsere Leben unterschiedlich sind und dass daran nichts verkehrt ist.
Hoffnung, dass niemand von Ereignissen und Verlusten im Leben bestimmt wird.
Hoffnung, dass Suizid in der Familie einen nicht zu ewigem Kummer verurteilt.
Es gibt viele Dinge, die schmerzen. Viele Erinnerungen. Vilnius wird immer die Stadt bleiben, in der ich geboren wurde und in der ich eine Kindheit in einer Familie hatte. Die Schönheit dieser Momente ist für mich viel kostbarer als der Gedanke daran, dass meine Familie später auseinander brach. Es ist nicht der Tod, der aus diesen Erinnerungen spricht. Es ist das Leben – zerbrechlich und kurz wie es ist.
Gabija, Vilnius, 6. Januar, Mai 2016
Suizidrate in Litauen
Nach dem Zweiten Weltkrieg und mit Beginn der sowjetischen Besatzung ist die Suizidrate unter Männern in Litauen bis um das zehnfache gestiegen, vor allem auf dem Land. Bauernhöfe wurden unter der Besatzung kollektiviert, viele Litauer nach Sibirien deportiert. Erst 1991 erkannte die UdSSR die staatliche Souveränität Litauens an. 1993 zog die nunmehr russische Armee endgültig ab. Litauens Märkte hatten unter der Planwirtschaft stark gelitten. Experten sprechen von kollektivem Trauma, Identitätsverlust. Das einzelne Schicksal ist aber immer mehr als eine solche Erklärung.
Quelle: Gaillene, Danute (Hg): Lithuania faces after transition, Eugrimas Publishing House, 2015, Vilnius
Ich danke Mikutis dafür, dass er mir das Leben zurückbrachte und für die unermessliche Liebe, die er uns entgegengebracht hat. 16 Jahre lang haben wir den Alltag und die feierlichen Momente geteilt. Wir sind gewachsen, haben gelebt, haben gelernt. Mikutis ist jetzt in den ewigen Jagdgründen und wir leben weiter. Meine Tochter studiert an einer Universität, ich arbeite und unterstütze sie; so wie der Hund uns zu einer bestimmten Zeit auf seine Art und Weise unterstützt hat. Er hat nie Fragen gestellt, niemals etwas gesagt, hat niemals über uns gerichtet. Nur zum Kuscheln kam er. Um mir Wärme zu geben, bis alles Eis gebrochen war.
Donata, Kupiškis 30.Januar, 9. Mai 2016
Anfang 2010 hat sich der Pfarrer von Varėna entschieden, sich das Leben zu nehmen. Da ich den Geistlichen persönlich kannte, konnte ich es kaum glauben. Ich nahm an seiner Beerdigung teil und kehrte danach zur Arbeit in meiner eigenen Gemeinde zurück. Völlig überraschend wurde ich angewiesen, seine Gemeinde zu übernehmen. Nachdem ich mich dort eingelebt hatte, bemerkte ich, dass die Gemeindemitglieder große Schwierigkeiten mit dem Umgang seines Ablebens hatten. Ich begann, Nachforschungen anzustellen und fand heraus, dass der Priester offensichtlich krank gewesen war. Leider war es zu spät gewesen, um ihm zu helfen. Dieser Vorfall ermutigte mich sehr, nicht nur mehr für die Toten zu beten, sondern auch wachsamer und aufmerksamer mit den Lebenden zu kommunizieren.
Pfarrer Justinas, Varėna 17. Februar, 14. Mai 2016
collections Slideshow 6 Bilder
Nach fünf Jahren der Trauer habe ich wieder Interesse am Leben gefunden. Ich habe ein neues Gefühl in mir entdeckt, ich spüre erneut Interesse. Ich bin interessiert daran ins Theater oder in die Oper zu gehen, Kanu zu fahren und an Aktivitäten des Rotary Clubs teilzunehmen. Sogar den Sonnenuntergang schaue ich mir wieder gerne an. Das ist meine Geschichte.
Vilma, Kupiškis, 10. Mai 2016
Meine Lieblingsfarben sind schwarz und weiß, also stürze ich mich kopfüber in alle Aktivitäten, die ich angehe.
Ich bemühe mich, den Kindern in meiner Obhut dabei zu helfen, dass sie schnellstmöglich lernen, die Wegweiser des Lebens zu erkennen und sich von ihnen leiten zu lassen.
Gintautas, Varėna, 20. Februar, 16. Mai 2016
Das fast leere Wohnzimmer einer Bauernfamilie. Seit mehreren Generationen arbeitet die Familie in der Landwirtschaft. In Litauen ist die Suizidrate vor allem auf dem Land hoch, entgegen der weltweiten Statistik.
Von 1992 bis 1994 arbeitete ich für eine Radiosendung namens „Stimmen der Nacht“ bei M-1 Radio. Als Moderator arbeitete ich dort an mehreren Tagen in der Woche. Die Idee war einfach – Menschen riefen mich an und ich sendete das Gespräch live. Jeder konnte sagen, was er wollte.
Einmal rief mich ein junger Mann an, der sagte, dass er sich nach dem Telefonat umbringen wolle. Alles, was ich wusste war, dass man mit suizidalen Menschen so lange wie möglich sprechen muss. Auf diese Art kann die Person den kritischen Punkt, an dem sie sich verletzen wird, überschreiten. Ich sprach länger als eine Stunde mit ihm. Dann legte er plötzlich auf. Ich wusste nicht, wie genau es passierte, aber während ich live auf Sendung mit ihm sprach, fragte ich ihn verschiedenste Dinge, nur um das Telefonat in die Länge zu ziehen.
Ein paar Wochen später rief er mich an und dankte mir für das Gespräch. Er sagte, es hätte ihm geholfen. Es war genau dieser Fall, der mir klarmachte, wie kraftvoll ein einfaches Gespräch sein kann. Neulich bekam ich eine Nachricht von ihm: „Erinnerst du dich an unser Telefon-Gespräch vor 20 Jahren? Tja, ich lebe noch immer.“
Andrius Mamontovas, Vilnius, 27. Februar, 23. Mai 2016
Wenn Sie selbst von Suizidgedanken betroffen sind, können Sie jederzeit anonym die Telefonseelsorge kontaktieren (www.telefonseelsorge.de). Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten.
Bundesweit gibt es darüber hinaus eine Vielzahl von Beratungsstellen für Menschen mit Suizidgedanken. Eine Übersicht gibt die Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.
Hannes Jung lebt als freier Dokumentarfotograf in Berlin. Geboren 1986 in Norddeutschland, studierte er in München, Valencia und Hannover Fotografie. 2011 hospitierte er ein halbes Jahr als Redaktionsfotograf bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seit 2012 wird er von der Agentur LAIF vertreten. www.hannesjung.com
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Die Recherche zu „How is Life?“ wurde mit Hilfe eines Stipendiums der Robert-Bosch-Stiftung ermöglicht.
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