Einmal muss jeder gehn, auch wenn dein Herz zerbricht

Einmal muss jeder gehn, auch wenn dein Herz zerbricht

von Bartholomäus von Laffert

© Wikimedia Commons

Abdi hat seine Heimat und seine Familie in Somalia verlassen. Die Geschichte einer Flucht

Samstag, 21 Uhr, Donauinsel, Wien. Abdi wirft, die Flasche in der Mitte fällt. Wir setzen an und saufen. Flunky-Ball, Trinkspiel für Studenten. Trink, trink, trink!, feuert uns Abdi an.

Abdi trinkt nicht. Wir sind die Studenten, die sich Samstagabend einen reinstellen. Abdi ist anders. Er ist Moslem, Somalier, Flüchtling. Wir sind 20, 21, 22. Abdi weiß nicht genau, wie alt er ist. Er dachte 18, der österreichische Arzt sagte 16, die Narben in seinem Gesicht sagen 35. Er könnte seine Mama anrufen und fragen. Aber Abdi weiß nicht, ob er noch eine Mama hat.

Nicht nach all der Scheiße, die er erlebt hat. Hätte er gewusst, in was für eine Welt er hineingeboren wird, er wäre auf ewig im Uterus geblieben.

Abdi hat seine Geschichte aufgeschrieben. Jedes Detail, peinlich genau, in sein kleines, blaues Notizbuch.

Es ist eine Geschichte, die kein Kind, kein Mensch dieser Welt ertragen kann. Die nicht sein darf in meiner Widdewidde­welt. Es ist eine Geschichte, die ein bisschen so klingt wie der Tote-Hosen-Gassenhauer von den zehn kleinen Jägermeistern: Einmal muss jeder gehn, auch wenn dein Herz zerbricht, davon wird die Welt nicht untergehn, Mensch ärger dich nicht. Bei Abdi gingen alle.

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Abdis Papa ist der Erste. Er hatte eine kleine Gemüsefarm, aber keine große Familie, keinen Clan. Ein mächtiger Clan kam vorbei, beanspruchte das Land. Abdis Papa fand das nicht fair. Also wurde er erschossen. Weil in Somalia weniger Demokratie, mehr Anarchie. Clanmilizen und Selbstjustiz. Blutdurstige Terroristen und unfähige Militärs. Fressen oder gefressen werden.

Als Papa geht, ist Abdi wahrscheinlich gerade drei Jahre alt. Seine Mama bleibt zurück. Ohne Mann, ­ohne Land, ohne Geld. Dafür mit vier Kindern.

Noch. Kindheit in Somalia ist so mittel. Ein Leben zwischen Straße und Koranschule – der einzigen kostenlosen Bildungsstätte, da, wo Abdi herkommt. Da geht er auch an einem Sommermorgen 2006 hin. Und kommt nie wieder zurück. Nie wieder heim zu seiner Mama.

Als Abdi mir vor ein paar Tagen seine Geschichte erzählt, sitzen wir im Augarten, einem der schönsten Parks Wiens. Zwei Mädchen in Abdis Alter sitzen da auf einer Bank und schicken aufgeregt Snapchat-Messages hin und her, ein wütender Rentner beschimpft eine Gruppe Studenten, die an viel zu jungen Bäumen eine viel zu schwere Hängematte angebracht haben, mit der böswilligen Absicht, das Wurzelwerk des Sprösslings, wenn nicht gleich das ganze Ökosystem zu zerstören. Ein Kind weint, weil Mutti Kaktuseis statt Calippo-Cola gekauft hat. Abdi weint auch.

Als Abdi an jenem Sommermorgen 2006 in der Koranschule sitzt, fallen somalische und äthiopische Militärs in die Stadt ein, um die islamistische Miliz, die Wochen zuvor die Kontrolle über das Dorf übernommen hatte, mit Sonaten aus Rattata-Klack-Klack zu vertreiben. Die Kinder verstecken sich unter den Tischen. Bis zum Abend. Dann kommt Abdis Tante, packt ihn und seine Cousine.

Abdis Mama hatte sie darum gebeten. Sie ist bereits gegen Mittag mit den drei anderen Kindern in den Norden geflohen, in dem Glauben, dass Abdi, die Tante, die Cousine bald nachkommen.

Die Tante zerrt die Kinder in einen der Busse, die fluchtartig die Stadt verlassen. Er fährt nach Galkayo. In den Süden. Ausgesucht hat Abdi sich das nicht, aber man ist wenig wählerisch, wenn die Alternative eine Kugel im Kopf ist. Mamas Ältester ist weg. Für immer.

Wir kämpfen für Allah. Komm mit mir, und du wirst ein besseres Leben haben

Es folgen die drei vielleicht friedlichsten Jahre in Abdis jungem Leben: UN-Flüchtlingslager, Plastikzelte, Essen, das erste Mal medizinische Versorgung. Und Abdi geht zur Schule. Drei Jahre. Da lernt er auch Muhammad und Yassin kennen. Die drei Jungs reden viel, spielen zusammen auf der Straße, wenn sie mal ein wenig Geld haben, gehen sie ins Kino und schauen sich einen Bollywoodfilm an. Nicht ahnend, was noch auf sie zukommen wird.

In Somalia sind drei Jahre Schule genug. Straße statt Übertritt. Schuhe putzen statt Liebesbriefe schreiben. Ein Jugendamt gibt es nicht. Keine Regierung kümmert sich um die schnorrenden Kinder, die von der Straße getreten werden. Das machen andere. Abdi ist auf der Suche nach schmutzigen Schuhen, als ihm ein Mann die Hand auf die Schulter legt. Er schlägt nicht zu:

Junge, du bist arm, du hast nichts. Du kannst das ändern. Soll ich dir ein Geheimnis verraten?

Ja.

Komm mit in den Dschihad. Alle jungen Somalier müssen in den Dschihad. Wir kämpfen für Allah. Komm mit mir, und du wirst ein besseres Leben haben.

Ich bin noch nicht bereit. Nicht jetzt – und Abdi läuft.

Der Mann ist so jemand, den man hierzulande Promoter nennen würde. Promoter für Al-Shabaab. Dem IS-Ableger und Zulieferer menschlicher Munition aus Ostafrika. Der seit 2006 fleißig an der Selbstzerfleischung des geschundenen Somalia arbeitet.

Abdi kommt heim. Erzählt aufgeregt von der merkwürdigen Begegnung. Und noch in derselben Nacht flieht er mit seiner Tante aus der Stadt. Aus dem Land. In Richtung Addis Abeba, Äthiopien.

Wärst du sonst in den Dschihad gezogen, Abdi?

Ich hatte keine Wahl.

Sonst hätten sie Abdi geholt. Ein Nein, danke kennen Terroristen nicht. Nicht die von Al-Shabaab.

November 2013. Ich selbst habe im Sommer Abitur gemacht, war mit meinem besten Kumpel Maxi auf der größten Reise meines bisherigen Lebens, 31 Tage, mit Zug und Autostopp quer durch Europa. Abdi ist 14. Seine größte Reise beginnt in Addis Abeba, sie ist größer als meine. Auch er fährt mit seinen besten Kumpels. Muhamad und Yassin.

Statt Amsterdam, Paris und Rom gibt’s für Abdi, Muhamad und Yassin Sudan, Tschad und Sahara. Statt Bahntickets am Schalter kaufen sie ihr Schicksal beim Schlepper. Bei den Criminals, wie Abdi sie nennt. Criminals, die sich nicht als Fluchthelfer romantisieren lassen. Menschenhändler, die für Geld über Leichen gehen. Die unsere einzige Chance sind, sagt Abdi.

Kleinwagen, Schweiß, Kauern, Fresse halten. Eine Nacht auf freiem Feld, eine in einem geheimen Unterschlupf. Immer weiter gen Norden, immer Richtung Mittelmeer. Bis in der Sahara Stopp ist. Sie sind bereits in Li­byen, wie Abdi später erfährt. Die Criminals wollen Geld, mehr Geld, noch mehr  – sonst Ende. Sie haben die Macht, die Knüppel und Pistolen. Skrupel haben sie nicht. Nicht bei den 120 identitätslosen Menschen aus Somalia und Eritrea. Abdi hebt seinen kleinen Becher. So viel Wasser haben wir am Tag bekommen, dazu ein Stück Brot. Drei Monate das. Was
in der Zeit passiert, beschreibt Abdi so:

Wir können nichts tun außer sitzen und warten. Die Criminals schlagen uns. Die Frauen nehmen sie mit sich. Sie vergewaltigen sie. Dann ist Muhamad kaputtgegangen. Nach 30 Tagen.

Wie kaputt?

Tot.

Er hatte Probleme mit dem Herz.

Zu viel Sonne, kein Wasser. Yassin und ich konnten nichts machen. Nur zusehen. Dann haben sie ihn weggetragen.

Abdi schießen die Tränen in die Augen. Wenn einer fortgeht, wer wird denn gleich weinen.

Nach drei Monaten sprengt das libysche Militär die wegsterbende Reisegesellschaft. Die Criminals fliehen.

Gut, dass die Libyer gekommen sind. Sonst wäre ich auch tot.

Die ausgehungerten Überreste der Überlebenden kommen ins Gefängnis, in die Hauptstadt, Tripolis. Eines dieser Zuchthäuser, wo 300 Menschen wie Hühner in Bodenhaltung zusammengepfercht werden. Zwei Toiletten, Läuse. Zweimal am Tag Wärter, die durchgehen, Menschen prügeln und mit kaltem Wasser penetrieren. Menschen, die es auf dem Papier gar nicht gibt. Aber das Essen war gut! Hamdulilla. Gott sei Dank.

Es ist ein libyscher Mullah, der Abdi und Yassin aus dem Gefängnis holt und zur Somalian Community bringt. Die Gemeinschaft, die von Kapstadt bis Berlin auf paradoxe Weise all das verkörpert, was innerhalb der Landesgrenzen Somalias keinen Platz zu haben scheint: Freundschaft, Zusammenhalt, Selbstlosigkeit. Ohne diese Gemeinschaft wäre Abdis Reise hier zu Ende. Aber sie berappen das Geld für die letzte Etappe: 1 000 Dollar für die große Überfahrt.

Im Schatten der Nacht schleichen sich 190 Menschen an den Strand. Die Criminals picken sich die Dicken heraus. Boote schleppen!

Wieder übliches Szenario. Sitzen und Fresse halten. Am Strand, 190 Menschen in einem Haus in der Schlepper-Hauptstadt Zuwara. Links und rechts davon die Villen der reichen Libyer, dicke Autos in den Hofauffahrten. Ab und an strecken ein paar hochrangige libysche Marines – Abdi glaubt das, weil sie schicke Uniformen mit vielen Sternen tragen – ihren Kopf zur Tür rein. Die Freunde der Criminals, heißt es dann immer. Die grüßen recht freundlich und reden den Leuten in Sozialpädagogenmanier ins Gewissen: Seid doch so nett und macht keinen Lärm, sonst holen die Nachbarn die Polizei. Wir kommen aus angesehenen Familien, mit dem Staat bekommen wir keine Probleme, es geht allein um eure Zukunft!

Es geht nicht nur um eine zu zerbröseln drohende Zukunft, sondern auch um Schläge. Wer einen Mucks macht, wird verprügelt. Es ist dunkel, Abdi hat Durst. Einmal versucht er, heimlich auf dem Klo Wasser zu zapfen. Er wird verpfiffen. Mit einem Rohrstock prügeln die Criminals auf seine Fußsohlen ein.

Wie viel mehr kann dieser Junge ertragen?

Drei Wochen das. Dann Unruhe, Hektik. Zwölf Uhr, Mitternacht. Das Wetter stimmt. Flacher Seegang und gute Sicht. Im Schatten der Nacht schleichen sich 190 Menschen an den Strand. Die Criminals gehen an der Menschenmasse vorbei und picken sich die Dicken, wie Abdi sie nennt, heraus. Mitkommen, Boote schleppen! Wobei hier von Booten so wenig die Rede sein kann wie von Dicken. Es sind zwei sitzsackähnliche Kunststoffbündel, die mit kleinen, leise ratternden Aggregaten zu Gummibooten aufgepumpt werden. Mit den Gummibooten werden Woche für Woche Leichen an die Mittelmeerküsten gespült. Die Boote werden ins Wasser gelassen. Der Chef der Criminals hebt die Hand, zählt runter: Drei, zwei, eins, go, run!

Es ist so surreal. Die Leute rennen.

Die Schnellsten bekommen einen Sitzplatz. Die Schwachen stehen. Abdi steht, Yassin auch. 95 Menschen pro Boot.

Was die Criminals wirklich beherrschen: Logistik und Gewinnmaximierung. Es sind Profis, da hat Abdi Glück. Bereits im Vorfeld haben sie unter den somalischen Flüchtlingen zwei Captains gecastet für die Überfahrt. Weil erste Regel: Nie setzt sich ein Criminal selbst ins sinkende Boot.

Trotzdem ist Captainsein so ein Sechser in der Flüchtlingslotterie.

Du darfst mit den Criminals abhängen, saufen, rauchen und bekommst für Freunde und Familie fünf Freikarten für die Wildwasserfahrt ins Glück.

Dazu zwei Tage exklusives Fahrtraining. Ankommen sollen die Boote ja schon, denn auch ein Criminal hat einen Ruf zu verlieren. Die Konkurrenz in Zuwara ist groß. Wie viel aber nützt ein bisschen Probeschippern, wenn man plötzlich die Verantwortung für 94 Menschen Fracht hat?

Abdi erklärt es mir, indem er wild mit den Armen vor meinem Gesicht rumwedelt: Der Criminal hat unserem Captain ein GPS gegeben. Dann hat er gesagt: Okay, jetzt drei Stunden geradeaus, dann fünf Stunden bisschen links, dann wieder ungefähr siebeneinhalb Stunden in die andere Richtung. Dann ciao!

Die Leute stapeln sich in zwei Lagen. Die unten sitzen in der Pisse der oberen. Die Leute kotzen. Sie erbrechen sich gegenseitig in den Nacken. Abdi kotzt nicht. Er hat seit zwei Tagen nichts mehr gegessen. Er betet. Zwei Koranverse. Lethargisch tritt ein lebensmüdes Kind die Verantwortung für sein Leben ab. An Allah. Angst hat Abdi nicht mehr. Schlimmer kann es nicht werden. Wenn ich hier sterbe, egal. Komme ich an, auch schön. Inschallah. So Gott will.

18 Stunden lang. Bis die Flaggen am Horizont auftauchen, rot und grün, das Militär – aber welches? Die Leute kennen die libysche Flagge gut, die ist rot und schwarz und grün. Die italienische kennen sie nicht.

Angst, Geschrei, Hysterie. Zurück nach Libyen gleich Game over. Exitus.

Doch es ist die Guardia Costiera. Die italienische Küstenwache. Die mit ihren paar Booten, die ihr nach dem Ende der Seenotrettungsmission Mare Nostrum geblieben sind, unermüdlich das Mittelmeer abfährt auf der Suche nach immer frischem Fang. Lebenden Menschen. Sie versuchen, das Beste zu machen aus der Politik ihrer Arbeitgeber. Sie sind fleißig, fleißig, fleißig – aber zu wenige, sagt Abdi. Der Marineoffizier krächzt auf Englisch durch die Bordlautsprecher: Seid ihr alle aus Somalia? Ihr seid hier nicht mehr in Tunesien, nicht in Libyen, willkommen in Europa! Und er legt Musik auf: somalischen Orientpop. Ihr dürft jetzt tanzen! Es ist die einzige Möglichkeit, den täglichen Wahnsinn zwischen Menschlichkeit und Leid zu ertragen.

Abdi freut sich, als er von den Italienern erzählt: Die sind spitze! Ein bisschen wie wir Somalier: kein Geld, bisschen kriminell und trotzdem gut drauf! Er und Yassin gehen in Sizilien an Land. In einem Hafen in der Nähe von Caltagirone. Hier müssten sie nach dem noch immer bestehenden Dublin-Gesetz, das die Zuständigkeit für die Flüchtlinge den EU-Einreiseländern zuschiebt, bleiben. Aber die Italiener haben eine recht freie Interpretation dieses Diktats: Willst du deinen Fingerabdruck abgeben, dich registrieren? Nein? Okay, da ist die Tür nach Europa. Für Abdi die Tür in ein neues Leben.

Eine Woche später werden Abdi und Yassin in dem Zug von Neapel nach Wien von der österreichischen Bundespolizei aufgegriffen. Die Beamten bringen sie in die Erstaufnahmeeinrichtung in Traiskirchen. Von da aus werden die Flüchtlinge weiterverteilt. Abdi kommt nach Wien, Yassin nach Salzburg. Nächste Woche wollen wir ihn da besuchen.

Abdi mag die Österreicher. Die sind alle nett.

Nein, Abdi. Es gibt genug Leute, die dich hier nicht wollen.

Der Junge legt mir die Hand auf die Schulter: Bartl, du denkst zu viel. Lass die Leute reden, ich versteh sie eh nicht. Ich mag sie. Sie schlagen mich nicht.

Abdi hat ganz andere Sorgen: Er will endlich die Mama anrufen. 2011 hat er das letzte Mal ihre Stimme gehört. Er sucht jeden Tag im Internet, in den somalischen Nachrichten, mehr kann er nicht tun. Und er will endlich Asyl, endlich eine sichere Zukunft. Für beide, Yassin und ihn. Eigentlich bekommen alle minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge in Österreich Asyl oder zumindest subsidiären Schutz. Aber nur, wenn sie auch vor dem 18. Geburtstag das Interview bei der Ausländerbehörde machen konnten. Die Wartezeiten dafür sind willkürlich lange. Abdi und Yassin warten.

Die Toten Hosen singen: Zwei kleine Jägermeister baten um Asyl, der eine wurde angenomm’, der andre war zu viel. stop

Bartholomäus von Laffert ist freier Reporter und lebt derzeit in Wien. Schwerpunktmäßig beschäftigt er sich in seinen Reportagen mit dem Thema Flucht und Fluchtursachen. Seine Texte veröffentlicht von Laffert u.a. in folgenden Medien: Tagesspiegel, der Freitag, Handelsblatt, Süddeutsche, Spiegel Online, bento, taz, der Standard, Falter und WOZ.

Einen Überblick über seine Arbeiten findet ihr hier:
www.torial.com/bartholomaeus.von-laffert
Twitter @bartvola

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