Ausgabe 01 – Migration
Über emerge Ausgabe 01 – Migration
Titelbild
Nur geduldet
Seit ihrer Geburt lebte die siebenjährige Rima aus dem Irak in der saarländischen Aufnahmestelle für Asylbewerber. Erst jetzt, nach zehn Jahren, konnte ihre Familie in eine eigene Wohnung umziehen und muss keine Abschiebung mehr befürchten. Aus der Serie Nur geduldet von Stefanie Zofia Schulz.
Einzelbilder
Die Wand
Melilla, die spanische Exklave an der marokkanischen Mittelmeerküste, ist in den vergangenen Jahren zur High-Tech-Festung geworden. Hier und nahe Ceuta, der zweiten spanischen Exklave, halten sich bis zu 80 000 Geflüchtete aus Ländern südlich der Sahara auf. Im Juni 2014 wurden die Grenzanlagen massiv ausgebaut, viele Migranten versuchen dennoch, unter Lebensgefahr den Zaun zu überwinden.
Bienvenido
Tausende Spanier emigrierten aufgrund der Finanzkrise nach Deutschland, viele junge und hoch Qualifizierte kamen nach Berlin. Anfangs müssen sie sich oft mit Aushilfsjobs und am Rand des sozialen Lebens durchschlagen. Eine der ungezählten Fragen in dieser kniffligen Phase: Ist die Stadt jetzt eine Art Ausgangspunkt, vorübergehender Wohnsitz oder doch schon neue Heimat?
Nächster Halt
167500 Vertriebene erreichten Italien im Jahr 2014 über das Mittelmeer. Bis April 2015 waren es erneut 23500, das sind 30 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Italien ist das wichtigste Ankunftsland Europas. Syrische Flüchtlinge versuchen meist, über Mailand weiter in den Norden zu kommen, Mailands Bahnhof Centrale ist die letzte Zwischenstation. Hinter den Menschen liegen der Bürgerkrieg, die Flucht nach Libyen und eine abenteuerliche Passage nach Sizilien.
Verfolgt
Von den rund 1,5 Millionen Christen, die vor 2003 im Irak lebten, sind nur noch gut 400 000 im Land. Im Bürgerkrieg zwischen Schiiten, Sunniten und Kurden fürchten sie um ihre Existenz, seit dem Vormarsch der Terrormiliz IS sind Tausende auf der Flucht. Eine kleine Gruppe assyrischer Christen hat sich selbst zu einer Miliz formiert – ein Novum – und versucht, die Flüchtenden zu schützen.
Zweite Haut
Der deutsche Teil der Region Lausitz liegt im Süden Brandenburgs und im Osten von Sachsen. Die Lausitz ist auch sorbisch. Auf vielen Ortsschildern steht die Bezeichnung in sorbischer Sprache, im sächsischen Bautzen zum Beispiel Budyšin. Die Sorben, mit zirka 60 000 Zugehörigen eine sehr kleine Minderheit in Deutschland, sind ursprünglich Westslawen, die vor etwa 1 500 Jahren in das Gebiet zwischen Ostsee und Erzgebirge kamen. Sie konnten ihr Brauchtum und ihre Sprache weitgehend bewahren.
Bewegungsmangel
Auch in Österreich gibt es »Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes«. Doch dort hat die Pegida-Bewegung, die von Dresden aus viele deutsche und europäische Städte erfasste, kaum eine Chance, Massen zu mobilisieren. In der rechtsnationalen FPÖ haben islamkritische und -feindliche Österreicher längst eine politische und ideologische Heimat gefunden.
Außenpolitik
Hannover. Millimeterrasen und Gartenzwerge, Vergissmeinnicht und Heckenschnitt nach Lineal. Doch das Klischee vom kleinbürgerlichen deutschen Schrebergarten passt nicht mehr. Der Bundesverband Deutscher Gartenfreunde meldet: 300000 Migrantinnen und Migranten sind im Kleingartenwesen aktiv. Sie bewirtschaften die Gärten eher als Nutzflächen, bauen Obst und Gemüse an, die für ihre Heimatländer typisch sind, und organisieren dort Familientreffen. Ein Mikrokosmos wird kosmopolitisch.
Geschichten
Checkpoint Gaddafi
Nach dem Fall Muammar al-Gaddafis herrscht in Libyen immer noch Chaos. Milizen und Dschihadisten kämpfen um die Herrschaft im Land. Wenn überhaupt, werden die südlichen Grenzen von Freischärlern bewacht.
Im Namen des Bauherrn
Überall in St. Petersburg wird gebaut, repariert, das Graue und Rostige unter frischem Weiß versteckt. Meist sind es Gastarbeiter aus den ehemaligen östlichen und südlichen Sowjetrepubliken, die illegal in Russland leben und unter furchtbaren Bedingungen arbeiten. Für eine Aufenthaltsgenehmigung bräuchten sie einen Arbeitsvertrag, doch gerade den wollen die Arbeitgeber umgehen. Viele der Arbeiter haben ihre Familien seit Jahren nicht gesehen.
Auf meiner großen Insel
Südspanien, das Mittelmeer und Portugals Süden – wie kaum eine andere europäische Region sind diese Landschaften mit Träumen und Vorstellungen von persönlichem Glück verknüpft. Für die einen versprechen sie Sonne, Wärme, ein neues Lebensgefühl. Für andere verkörpern sie die Hoffnung auf ein besseres Leben, einen Arbeitsplatz oder auch nur ein Dasein ohne Angst. Die Menschen kommen aus Deutschland, Holland, Großbritannien oder aus Nordafrika und Osteuropa.
Landungsbrücken
Ein Dreimonatsvisum für den Schengenraum und ein paar Hundert Euro: Viel mehr haben die 300 Männer aus Afrika nicht im Gepäck, als sie nach Hamburg kommen. Sie leben monatelang auf der Straße, viele von ihnen landen in Notprogrammen. Deutsche Behörden aber sehen wenig Anlass, humanitäre Hilfe zu leisten. Denn nach der Dublin-Verordnung ist Italien für die Flüchtlinge verantwortlich, also das europäische Land, das die Geflüchteten zuerst betreten haben.
Guten Morgen, San Roque
Zehn bis zwölf Millionen Roma leben heute in Europa. Ursprünglich aus Indien beziehungsweise aus dem heutigen Pakistan stammend, kamen ihre Vorfahren, unterschiedliche ethnische Gruppen, vor mehr als 1000 Jahren nach Europa. Aufgrund von Kriegen, Verfolgung, Vertreibung sowie aus wirtschaftlicher Not waren sie für einige Jahrhunderte zu ständigem Wandern gezwungen, und so entstand die auch heute noch weitverbreitete Vorstellung von einem homogenen Nomadenvolk. Inzwischen sind über 90 Prozent der europäischen Roma sesshaft.
Der Landarzt
Amin Ballouz wuchs im Libanon auf und floh als Jugendlicher vor dem Krieg. Seine Familie wurde für immer auseinandergerissen, er selbst brachte eine globale Odysee hinter sich, bis er, über Umwege, nach Deutschland kommen sollte. Er studierte Medizin in Halle, arbeitete als Katastrophenhelfer und hatte eine Praxis in Düsseldorf. Als er 2010 nach Berlin will, baten ihn die Behörden auf’s Land zu gehen. Er landet in der Uckermark und findet dort seine neue Heimat.
Nur geduldet
Dass mitten unter uns Menschen leben, die jederzeit abgeschoben werden können, macht Stefanie Zofia Schulz nervös. Stefanie hat ihr erstes Lebensjahr selbst in einem Spätaussiedlerheim verbracht, in Nagold. Kurz vor ihrer Geburt kamen ihre Eltern aus Wadowice, Polen, nach Baden-Württemberg. Als Jugendliche lebte Schulz dann zehn Jahre lang im Saarland. Doch von der Landesaufnahmestelle für Flüchtlinge in Lebach, in der die Fotos entstanden, hat sie damals nichts gewusst.
Aushaltwaren
Der Weg in die Bochumer Straße 156 in Gelsenkirchen ist für viele der kürzeste Weg nach Hause. Dort befindet sich ein besonderer Supermarkt – der Supermarkt Grand. Er hat Haushaltswaren, Filme, Ikonen im Angebot, aber vor allen Dingen: ungezählte Lebensmittel aus allen Ecken der ehemaligen Sowjetunion. Heimat zum Einpacken und Einverleiben. Eingemachte Gurken, Auberginen, Kohlschoten, Pilze, Äpfel, Wassermelonen, sogar Suppen und Breigerichte in allen möglichen Ausführungen schauen aus ihren Gläsern.
Robinson wacht
Keith Robinson ist der Herr von Niihau. Er tut alles, um die Hawaii-Insel vor Eindringlingen zu schützen. Sein Land soll unbefleckt sein von den Sünden dieser Welt. Niihau soll bleiben, wie es niemals war.
Textbeiträge
Einmal muss jeder gehn, auch wenn dein Herz zerbricht
Abdi hat seine Familie verlassen, seine Heimat, sein Somalia. Über den Sudan, Tschad und die Sahara landet er in einem libyschen Gefängnis in der Hauptstadt Tripolis. Nach seiner Freilassung geht es über das Mittelmeer weiter nach Italien bis er letztlich in Wien ankommt. Die Geschichte einer Flucht.
Ich ist ein anderer
Im April 2015 sterben an die 1000 Menschen innerhalb von nur zehn Tagen bei der Flucht über das Mittelmeer. Wieder füllen sich für kurze Zeit die Titelseiten der Zeitungen mit Bildern überfüllter Flüchtlingsboote. „Eine Tragödie“, „ein schreckliches Unglück“, hören wir aus Politik und Medien. Aber was geschieht, wenn die Menschen, um die es eigentlich gehen sollte, nur noch als unkenntliche Masse oder statistische Zahlenwerte auftreten?
Zum Abgleich mit der Wirklichkeit
Dorothea Langes „Migrant Mother“ aus dem Jahr 1936 steht beispielhaft für Fotografien, die den Status eines Tatsachenbildes haben – auch wenn inzwischen bekannt ist, dass sie inszeniert wurden. Wie weit darf Inszenierung heute im digitalen Zeitalter gehen?
Das System fließt
Jede Bevölkerung lässt sich mit gerade mal drei Parametern beschreiben: Leben, Sterben und Umziehen. Mit durchschnittlich 1,6 Kindern je Frau ist Europa der erste Kontinent, der nicht mehr aus eigener Kraft wächst. Trotz Zuwanderung dürfte die Bevölkerung sogar weiter schrumpfen. Wie viele Menschen welchen Alters leben wo und wie lange noch? Ein Grundkurs in globaler Demografie.