Heinrich Völkel

The Terrible City

„Gegossenes Blei“ nannte das israelische Militär die Operation gegen die Hamas im Jahr 2008. Weite Teile des Gazastreifens wurden zerstört, doch die Einwohner haben ihren Lebensmut nicht verloren.

Im Dezember 2008 begann die israelische Militäroperation „Gegossenes Blei“. Dabei wurden etwa viertausend Gebäude im Gazastreifen zerstört, etwa zwanzigtausend wurden in Mitleidenschaft gezogen.

März 2009, fünf Wochen nach Ende des Krieges.

Es gibt zwei Arten der Zerstörung in Gaza: In der Innenstadt sind die Häuser von führenden Hamas- oder Fatah- Leuten ganz gezielt beschossen worden. Wenn man davor steht, hat man fast Ehrfurcht vor der chirurgischen Präzision, mit der ein einzelnes Gebäude getroffen wurde. Und dann gibt es noch die Gebiete, in die israelische Panzerbrigaden vorgedrungen waren. Auf den ersten Blick sieht dort alles aus wie auf einer riesigen Baustelle: Panzer haben den Mutterboden einfach weggeschoben, damit dort so schnell nicht wieder etwas wächst. Vielen Häusern fehlen Ecken oder ganze Wände, aber die Leute wohnen trotzdem noch da, sie haben keine Wahl. Von der Straße kann man in manche Wohnzimmer gucken, manche Familien haben Schrankwände vor die Löcher geschoben.

In einem Viertel fehlt jedem Minarett die Spitze – sie waren Ziele von Schießübungen der israelischen Panzer. Und in den Schulen sind ganze Wände mit hebräischen Sprüchen beschmiert.

Ein riesiges Foto vom Brandenburger Tor hängt an der Wand in der Berlin-Apotheke in Gaza. Der Apotheker hat in Potsdam studiert, er spricht deutsch. Er führt zu einer Moschee auf einem Platz, umgeben von vierstöckigen Gebäuden, zusammengefallen wie Kartenhäuser. Auf den Trümmern spielen jetzt Kinder. Gebetet wird hier in einem Zelt. Während eines Freitagsgebets ist plötzlich ein Donnern in der Luft: die israelischen Kampfjets kommen im Tiefflug und drehen Pirouetten. Eine Drohgebärde, sie wollen zeigen, dass sie noch da sind.

Was eine Stadt zur Stadt macht, hat nichts damit zu tun, wie viele Häuser dort tatsächlich stehen, sondern wie lebendig die Gesellschaft ist

Die Taxis fahren, die Leute beten und kaufen ein, die Schüler haben Unterricht, wenn auch in Schichten, weil das Hilfszelt zu klein für alle ist. Es ist ein Grad an Gewöhnung dabei. Viele sagen: »Die reißen’s ein, wir bauen’s auf, die reißen’s ein, wir bauen’s auf.« Die Leute wollen ständig mit einem sprechen, denn ein Reisender ist für sie eine Informationsquelle.

So eine zerstörte Stadt hat auch etwas Faszinierendes: Die Trümmerarchitektur hat eine ganz eigene, schrecklich schöne Ästhetik. Das sagt man einem Palästinenser natürlich nicht. Wenn man mit ihnen über Krieg redet, werden alle ernst. Aber im Alltag wird viel gelacht. Und die Menschen sind wahnsinnig gastfreundlich – Klopft man bei wildfremden Leuten an die Tür, ist das erste was man hört: »Kaffee oder lieber Tee?« Die Zivilisation lebt.

Denn was eine Stadt zur Stadt macht, hat nichts damit zu tun, wie viele Häuser dort tatsächlich stehen, sondern wie lebendig die Gesellschaft ist. Sie hält die urbanen Strukturen am Leben. Die Trümmer sind nur ein Übergang, ein Zwischenstadium zum Neuaufbau. Eine Stadt muss nicht automatisch kaputt sein, wenn sie zerstört ist.

Heinrich Völkel, wurde 1974 in Moskau geboren. Zwischen 1996 und 1999 studierte er Fotografie am Lette-Verein in Berlin. Seitdem ist er freiberuflich als Fotograf tätig und wurde 2004 in die OSTKREUZ Agentur der Fotografen aufgenommen. Heinrich Völkel lebt in Wiesbaden.

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