Christian Werner

74. Das Leid der Jesiden

Bis zu 20.000 Jesiden sind den Kämpfern des sogenannten „Islamischen Staates“ (Daesh, so das arabische Akronym) durch Mord und Vergewaltigung zum Opfer gefallen. Drei Jahre nachdem tausende Jesiden im Shengal-Gebirge eingeschlossen und getötet worden sind, befinden sich noch immer unzählige Frauen und Mädchen in Gefangenschaft. Die Überlebenden engagieren sich derweil in verschiedenen Kämpfen: Für die internationale Anerkennung des Massakers als Genozid, für bessere Lebensbedingungen im Nordirak und für Selbstbestimmung.

In einer Hochhaussiedlung in Zaxo wohnen etwa 8.000 Flüchtlinge auf engstem Raum, mit verseuchtem Trinkwasser und ohne Essen. Der Gestank von Fäkalien ist allgegenwärtig, Wind bläst durch die offenen Fassaden.
Nadja Madelin, 20, stammt aus dem nordirakischen Dorf Kocho. IS Truppen hatten dort hunderte Männer getötet, Mädchen und Frauen nach Mosul verschleppt und als Sexsklavinnen missbraucht. Nadja gelang die Flucht, seitdem lebt sie bei ihrer Tante in Khanke.

Fotografie Christian Werner
Text Daniel Walter

Es ist windig auf den Bergen rund um die Großstadt Dohuk. Jetzt im Mai leuchten die Hügel schon in sattem Grün. Üppige Wiesen schmücken die Ninive-Ebene und deren Ausläufer, sie sind Ausdruck der Fruchtbarkeit, für die die Region so bekannt ist. 250.000 Einwohner soll die schnell wachsende Stadt zählen. Doch vom Gipfel des Berges aus lässt sich schon mit bloßem Auge erkennen, dass die Region seit 2014 einen enormen demografischen Wandel erfahren hat.

Auf halber Strecke des in der Ferne schimmernden Mosul-Staudammes liegen die Zeltstädte der Hilfswerke der Vereinten Nationen (VN) und anderer Hilfsorganisationen. Das größte von ihnen, Camp Domiz, bietet derzeit 32.000 Menschen Schutz, die vor dem syrischen Diktator Bashar Al-Assad fliehen mussten. Etwa halb so groß ist das Camp Khanke, hier wohnen rund 18.000 Menschen; so gut wie alle von ihnen sind Jesiden und im Herbst 2014 vor Daesh geflohen, als dessen bewaffnete Kämpfer die Stadt Shengal¹ (arab. Sinjar) im Nordwesten des Irak überfielen.

Zeitweise waren bis zu 50.000 Jesiden auf den Gipfeln des Shengal-Gebirges eingeschlossen, bei 40 Grad Hitze, ohne Essen und ohne Trinken

Die genauen Opferzahlen lassen sich noch immer schwer schätzen, doch wird gemeinhin von circa 12.000 Getöteten und 6.300 versklavten und vergewaltigten Jesiden gesprochen. Zeitweise waren bis zu 50.000 von ihnen auf den Gipfeln des Shengal-Gebirges eingeschlossen, bei 40 Grad Hitze, ohne Essen und ohne Trinken. Die Bilder und Berichte über diese Zustände erzeugten international großen Aufruhr und führten zu direkten Eingriffen seitens der USA und anderer westlicher Länder im Irak und in Syrien – zunächst durch das Einrichten einer humanitären Luftbrücke für die im Shengal-Gebirge eingeschlossenen Menschen, kurz darauf mit Luftschlägen gegen die Stellungen des Islamischen Staates.

Bei gutem Wetter starten Helikopter der irakischen Armee mit Hilfsgütern in Richtung des Shengal-Gebirges, um humanitäre Hilfe zu leisten. Während der schweren Kämpfe der kurdischen und jesidischen Kämpfer gegen den IS wurden bereits mehrere Helikopter abgeschossen.

Das Shengal-Gebirge

Feuerritual in der jesidischen Pilgerstätte von Sherfedin: Mit in Tücher gebundenen Knoten und dem Kuss des Altars sollen Wünsche in Erfüllung gehen. Aus ihrem Glauben schöpfen viele Menschen die letzte Kraft und Hoffnung, er hält sie am Leben.

Elemente des Jesidentums

Am Fuße des Shengal-Gebirges liegt die gleichnamige Stadt, die seit Jahrhunderten Siedlungsgebiet der ethnisch-religiösen Minderheit der Jesiden ist. Der jesidische Glaube ist eine alte, nicht-abrahamitische Religion, deren Ursprung bis ins 11. Jahrhundert² zurückreicht. Sie enthält sowohl Elemente des Zoroastrismus (Rolle des Feuers), des Christentums (Taufe) als auch des Islams (Beschneidungsritual). Die Vermittlung dieses monotheistischen Glaubens findet primär oral, über den Gesang von Hymnen (qewl) statt. Gott ist hierbei der Erschaffer der Welt und hat ihren Schutz in die Obhut von sieben Engeln/Mysterien, den heptad/heft sirr, gegeben. Die Hauptfigur unter den sieben (Erz-)Engeln ist „Malek Taus/Tausi Melek“, welcher als oberster Statthalter Gottes auf Erden verehrt wird und einen Pfauenvogel zum Symbol hat.

Als jährlicher Wallfahrtsort gilt den Jesiden der circa 50 Kilometer östlich von Dohuk gelegene Ort Lalish. Hier liegt auch der zu Beginn des 12. Jahrhunderts verstorbene Scheich „Adi ibn Musafir Al-Umawi“ begraben, der als menschliche Inkarnation des Malek Taus gilt. Die Abgeschiedenheit Lalishs unterstreicht die spirituelle Bedeutung des Ortes. Sie kann auch symbolisch gesehen werden und damit für ein wichtiges Element der jesidischen Sozialstruktur stehen: die streng praktizierte Endogamie (Eheschließung innerhalb der eigenen sozialen Gruppe).

Bei Kämpfen rund um die Gemeinde Babire hat der IS sämtliche Heiligtümer der Jesiden zerstört. Die Peschmerga konnten das Gebiet im August 2014 schließlich zurückerobern.
Die meisten jesidischen Flüchtlinge aus der Region Shengal leben mittlerweile in Zaxo. Sie haben alles Hab und Gut verloren und leben in zerstörten Häusern oder Rohbauten.

Nicht selten sieht die jesidische Gemeinschaft sich den Vorwürfen ausgesetzt, sie sei „abgeschlossen“, daher „mysteriös“ und eine Gruppierung von „Teufelsanbetern“. Dieses Bild zeichnet auch ihre Geschichte von Verfolgung und Repression. Der Malek Taus als Satan ist in der anti-jesidischen Rhetorik eines der am häufigsten bemühten Narrative. Über die Vorurteile von Muslim*innen in der Region, wanderte es mittels der Reiseberichte von Europäern ab dem 17. Jahrhundert auch in die dortige Welt aus Mythen, Stereotypen und Verunglimpfungen aus. Neben den Soldaten Daeshs bemüht sich auch der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan den Vorwurf der „Teufelsanbetung“ zu verbreiten.

Seit tausenden von Jahren fanden die Jesiden im Shengal-Gebirge immer wieder Zuflucht vor bewaffneten Konflikten. So gefährlich wie dieser Zeit war es jedoch nie zuvor. Vier Monate lang wurden sie in Sherfedin belagert, nahezu vollständig abgeschnitten von humanitärer Hilfe.
Eine jesidische Familie hat sich in Zaxo in einem Häusergerippe mit Planen und Decken behelfsmäßig ein Zelt gebaut. Einige der Familienmitglieder sind krank, allerdings gibt es keinen Arzt zu dem sie gehen könnten.
Jesidische Binnenflüchtlinge haben in dem Rohbau einer Schule in Rabia Unterschlupf gefunden. Etwa 1.000 Menschen leben hier auf engstem Raum. In wenigen Wochen wird der Winter einbrechen, es gibt weder Decken noch genug warme Kleidung.

Geschichte politischer, wirtschaftlicher und sozialer Repressionen

Zwar ist das Ausmaß des 2014 begonnenen Genozids durch Daesh in der Geschichte der Jesiden einzigartig, doch fügt es sich in ein von Repressionen bestimmtes kollektives Gedächtnis der Gemeinschaft ein. Die Jesiden nennen das Massaker von Shengal das 74. in der Geschichte ihrer Glaubensgemeinschaft. Die vorherigen 73 Male datieren sie in die Zeit des Osmanischen Reiches, welches vormals die Siedlungsgebiete in der Grenzregion der heutigen Nationalstaaten Türkei, Syrien, Armenien und Irak einschloss.

Nachdem der IS die Stadt Rabia an der irakisch-syrischen Grenze besetzt hielt, konnte sie von den Peschmerga nach langen Kämpfen zurückerobert werden. Bis zuletzt hatten sich IS-Kämpfer im örtlichen Krankenhaus verschanzt. Die getöteten Terroristen wurden an Ort und Stelle verbrannt.

Doch auch im irakischen Nationalstaat waren die Jesiden Opfer politischer Unterdrückung. Unter der Herrschaft der Baath-Partei Saddam Husseins, waren sie wie viele andere nicht-arabische und/oder nicht-sunnitische Bevölkerungsteile, verschiedensten Formen der Diskriminierung ausgesetzt. Auch während der verheerendsten Jahre des Bürgerkriegs, zur Zeit der US-Besatzung, wurden Jesiden gezielt von sektiererischen Gruppierungen attackiert. Der der Al-Qaida zugerechnete Anschlag auf zwei jesidische Dörfer in Shengal am 14. August 2007, ist mit über 700 Toten und 1.500 Verletzten einer der opferreichsten in der Geschichte des Irak. Die Muster dieser Jahre – sektiererische Gewalt, ein zentralstaatliches Machtvakuum und ein dementsprechend großer Einfluss von Drittländern – bildeten die Grundlage für die Entstehung Daeshs und wiederholten sich auf dramatische Weise, fast auf den Tag genau sieben Jahre später, Anfang August 2014.

Tausende von Binnenvertriebenen, allen voran Jesiden, haben in einem Lager vorübergehend Zuflucht gefunden. Allein in der Region Dohuk gibt es 18 Lager für Vertriebene. Es mangelt an Nahrung, sanitären Einrichtungen und Unterkünften.
Jesidische Binnenflüchtlinge suchen im Sharia Lager behelfsmäßig Unterschlupf in Rohbauten, Zelten und auf der Straße. Jede Familie hat den Verlust von Angehörigen zu beklagen, getötet oder verschleppt durch den IS.
Die Lebensbedingungen in Zaxo sind für Flüchtlinge katastrophal, viele von ihnen leben in provisorischen Hütten und Zelten. Auf der Straße backen jesidische Frauen traditionelles Lehmofenbrot.

Shengal 2014 – Gefühl des Verrats, Kampf, Autonomie und Anerkennung

Verschiedene Akteure versuchten, insbesondere nach dem Sturz des Baath-Regimes, ihren Einfluss in der Shengal-Region auszuweiten. Allen voran die Regierungen der kurdischen Autonomieregion, des Irak, sowie die PKK. Als Daesh Mitte 2014 rasend schnell in weite Gebiete des Irak vorstieß und die Millionenstadt Mossul eroberte, waren es die Truppen der kurdischen Autonomieregierung (Peshmerga), die Shengal faktisch besetzt hatten³. Trotz der Sicherheitsversprechen gegenüber der lokalen jesidischen Bevölkerung, zogen sich die Peshmerga am 4. August vor dem anrückenden Truppen Daeshs zurück und überließen hunderttausende Jesiden ihrem Schicksal – ein tief in Erinnerung gebliebener Vertrauensbruch, der von vielen als Verrat bezeichnet wird.

2014 lebten ca. 700.000 Jesiden im irakischen Shengal-Gebirge. Heute sind 85% davon ermordet oder vertrieben

In Abwesenheit der irakischen Armee und der Peshmerga, waren es Kämpfer der kurdischen PKK und der YPG/YPJ, die sich Daesh in den Weg stellten und den Jesiden mit US-Amerikanischer Luftunterstützung die Flucht ermöglichten. Auch jesidische (Frauen-)Selbstverteidigungseinheiten (YBŞ/YJÊ) bildeten sich und konterkarierten somit das allzu häufig gezeichnete Bild einer exotischen Minderheit in der Opferrolle. Doch das Ausmaß der Gewalttaten vom Herbst 2014 wirkt in vielfältiger Weise nach: Bis zu 700.000 Jesiden lebten bis 2014 im Irak, die meisten von ihnen in den Regionen rund um das Shengal-Gebirge. Heute sind rund 85 Prozent der Jesiden ermordet oder mussten ihre Heimat verlassen. Sie leben nun in Camps, wie jenem nahe dem rund 150 Kilometer entfernten Dohuk oder im Ausland.

Jeden Tag finden an der Front in Sherfedin erbitterte Kämpfe statt. Der Ort ist ein wichtiger Zugang zum Shengal-Gebirge, rund 200 Kämpfer halten die Stellung mit teils veralteten Waffen.
Ein PKK/YPG-Kämpfer posiert vor einem Haus im Dorf Korsi im Shengal-Gebirge. Jeder Strich auf der Mauer hinter ihm steht für einen getöteten IS-Kämpfer.

Die Region bleibt weiterhin umkämpft. Die alten Muster wiederholen sich: Die irakische Armee und mit ihr verbündete Milizen haben nach dem gescheiterten Unabhängigkeitsreferendum im Oktober 2017 die Region an sich gerissen. Doch die Machtkämpfe zwischen PKK-nahen Strukturen, der rivalisierenden kurdischen Autonomie-Regierung und der Armee finden weiterhin statt. Noch immer werden Massengräber gefunden und tausende Menschen vermisst. Nur wenige konnten ihren Peinigern entkommen. Zwei von ihnen sind Nadia Murad und Lamia Aji Bashar. Die beiden Frauen sind als Trägerinnen des Sacharow-Preises zu den Gesichtern des Anliegens geworden, die systematische Verfolgung und Ermordung der Jesiden durch Daesh international als Genozid einstufen zu lassen. Bislang haben dies nur die Vereinten Nationen offiziell getan, deren Camps die Umgebung Dohuks säumen. Wirkliche Verbesserungen wird es für die Jesiden jedoch nur durch den Erfolg ihrer eigenen Kämpfe geben. stop


¹ Jesiden sprechen größtenteils den kurdischen Dialekt Kurmandschi.
² Die genauen Ursprünge des Jesidentums sind umstritten. Auch eine viel weiter zurückreichende Geschichte ist möglich.
³ Laut irakischer Verfassung soll der Status Shengals in einem Referendum geklärt werden.

Wohin man schaut, überall in Zaxo, an der syrisch-irakischen Grenze, leben jesidische Flüchtlinge aus Shengal: in zerstörten Häusern, Rohbauten, Camps, auf der Straße. Sie haben wenig zu essen, keine Winterkleidung, keine medizinische Versorgung.

Christian Werner (*1987) hat bis 2014 Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an der Hochschule Hannover studiert. Seine Einzelbilder und Fotostories wurden in zahlreichen internationalen Zeitungen und Magazinen veröffentlicht, unter anderem in Der Spiegel, Die Zeit, TIME Magazine und The Washington Post. Inhaltliche Schwerpunkte sind dabei soziale Ungerechtigkeit und geopolitische Konflikte. Christian hat etliche renommierte Förderpreise und Auszeichnungen erhalten, darunter den CNN Journalist Award, den Hansel-Mieth-Preis Digital und den Lumix Multimedia Award. Im Jahr 2017 wurde er für den Grimme Online Award nominiert und hat den Magnum Photography Juror’s Pick Award erhalten. Seine Arbeiten wurden in der ganzen Welt auf Fachmessen und Fotofestivals sowie in Gallerien ausgestellt. Seit 2016 wird Christian durch die Agentur Zeitenspiegel repräsentiert. Er lebt und arbeitet derzeit als freier Fotograf in Boitzum.

www.werner-photography.com

Daniel Walter kennt Irakisch-Kurdistan und die umliegenden Länder durch jahrelanges Reisen, sowie durch Studium und Beruf. Er ist aktives Mitglied bei Alsharq e.V. – Verein für Politische Bildung zum Nahen und Mittleren Osten. Die Plattform für junge Wissenschaftler*innen und Journalist*innen führt regelmäßig öffentliche Veranstaltungen durch und betreibt einen Blog alsharq.de.