Kai Weise

Carrara Marmor

Seit der Römerzeit gilt Marmor als Symbol für Luxus, Macht und Beständigkeit. Doch welche Auswirkungen haben die weißen Marmorberge von Carrara heutzutage auf ihre Bewohner*innen?

Kai Weise

Von römischen Prestigebauten über Michelangelos Skulpturen bis hin zu exklusiven Bädern und Fußböden: der weiße Marmor aus Carrara ist beliebt und weltberühmt. Doch der jahrhundertelange Abbau des Gesteins hinterlässt immer deutlichere Spuren. Dazu kommt eine fortschreitende Automatisierung, welche die einzigartige Industrie und auch die Natur in der Toskana unter Druck setzt.

Links: Ein Steinbruch im Abbaugebiet Frantiscritti. Februar 2023; rechts: Marmorblöcke stehen bereit für den Verkauf. Carrara, Februar 2023

Die Marmorwirtschaft ist ein wichtiger Teil der lokalen Ökonomie rund um Carrara. Sie ist Touristenmagnet wie Industriemotor und prägt das Leben vieler Menschen vor Ort. Das Frantiscritti Tal, eines der drei großen Abbaugebiete in der Region um Carrara, beherbergt um die 30 Steinbrüche, sie schmiegen sich in die Serpentinen des Gebirges. Jahr um Jahr wachsen die weißen Steinbrüche, um der globalen Nachfrage nach dem Marmor gerecht zu werden.

Panoramablick auf Frantiscritti, das aus 30 kleineren Steinbrüchen besteht. Neben Torano und Colonnata ist Frantiscritti eines der drei wichtigsten Abbaugebiete für Marmor in Carrara. Februar 2023

Seit vielen Jahrhunderten wird in der Region um Carrara Marmor abgebaut und verarbeitet. Früher arbeiteten die Bergleute vor allem in unterirdischen Stollen, aufgrund der großen Einsturzrisikos war dies eine gefährliche Arbeit. Heute wird der Stein vor allem schichtweise von dem Bergen abgetragen. Die dadurch entstandenen “Marmorterrassen” von Carrara prägen seither das Landschaftsbild. Moderne Werkzeuge machen die Arbeit zwar sicherer, der Abbau und -transport der gigantischen Steinblöcke ist aber weiterhin nicht ungefährlich. Im Schnitt stirbt jedes Jahr ein*e Arbeiter*in in den Steinbrüchen.

Links: Erich Lucchetti ist Präsident von "Bruno Luccheti - Marble & Granite". Das Unternehmen besitzt einige Steinbrüche im Abbaugebiet Frantiscritti. Carrara, Mai 2023; rechts: Drei Steinbrucharbeiter bereiten eine Säge für die Weiterverarbeitung der riesigen Marmorblöcke vor, die aus dem Berg geschnitten wurden. Frantiscritti, Mai 2023

Der Bergbau in den Steinbrücken ist geprägt von gigantischen Maschinen und Baufahrzeugen, um die Steinblöcke aus der Felswand zu trennen und von den Bergen zu transportieren. Riesige Sägen schneiden den Marmor und automatisierte Werkzeuge übernehmen einen Großteil der Arbeit, sodass die Zahl der Beschäftigten in der Marmorindustrie im Laufe der Zeit deutlich abgenommen hat. Früher arbeiteten etwa zehnmal so viele Menschen in den Steinbrüchen, wo Tausende beschäftigt waren, während heute nur noch rund 900 Arbeiter*innen dort tätig sind.

Mit dem Abbau des Marmors hat sich auch ein riesiges Kunstgewerbe in Carrara angesiedelt. Nach wie vor ist die Bildhauerei in der Region sehr präsent. Künstler*innen aus der ganzen Welt haben sich hier niedergelassen, um mit dem Gestein zu arbeiten. Sie betreiben Ateliers zwischen der Stadt und den Steinbrüchen. Dort wo einst Skulpturen wie der David von Michelangelo entstanden, werden mittlerweile viele Skulpturen digital entworfen und anschließend mit den Diamantköpfen der Roboterarme aus dem Marmor gefräst. Büsten und Statuen sind noch immer beliebte Kunstobjekte, die in viel größerer Stückzahl und zu deutlich geringeren Preisen weltweit vertrieben werden.

Links: Eine Steinbruchwand im Abbaugebiet Frantiscritti. Der Marmor wird Schicht für Schicht vom Berg abgetragen, wodurch die charakteristischen Stufen entstehen. Februar 2023; rechts: Renzo Maggi, geboren 1944 in der Nähe von Carrara, ist Bildhauer und Maler. Er hat sein ganzes Leben lang mit Marmor gearbeitet und ist fasziniert von der Fähigkeit, wie einzigartig der weiße Marmor Licht und Schatten wiedergibt. Querceta, Februar 2023

Der bereits viele Jahrhunderte andauernde Abbau, die große globale Nachfrage und die Beliebtheit des Gesteins in der Architektur und dem Kunstgewerbe hinterlassen immer deutlicher ihre Spuren rund um Carrara. Innerhalb weniger Jahrzehnte könnte die wirtschaftliche Marmorgewinnung allerdings erschöpft sein. Außerdem ist es möglich, dass das Abtragen ganzer Bergflanken das Klima der Region nachhaltig verändert, wenn die Apuanischen Alpen ihre regulierende Funktion auf Niederschläge und Temperatur verlieren.

Mittlerweile organisiert sich immer deutlicher der Widerstand gegen den intensivierten Marmorabbau. Die Gruppe „Athamanta“ hat sich vor rund fünf Jahren gegründet. Ihr Name ist angelehnt an eine in den apalusischen Alpen heimischen Blume, die durch den fortschreitenden Marmorabbau in Carrara ihren Lebensraum verliert. Die Aktivist*innen leisten Aufklärungsarbeit über die Umweltfolgen durch die Marmorindustrie und die Arbeitsbedingungen in den Steinbrüchen und organisieren Protestaktionen.

Links: Zwei Aktivistinnen der Gruppe „Athamanta“. Die rund 20 Mitglieder organisieren Demonstrationen und Kundgebungen. Massa, Mai 2023; rechts: Panoramablick von einem der Steinbrüche des Abbaugebiets Frantiscritti auf Carrara. Februar 2023

Obwohl Carrara wirtschaftlich von der Marmorindustrie profitiert, leben die Besitzer*innen der Unternehmen, die von den enormen Gewinnen dieser Branche profitieren, häufig in der wohlhabenden Nachbarstadt Pietrasanta oder im Ausland.

Auch in Zukunft wird Carrara wohl mit Marmor assoziiert bleiben, der wiederum für Luxus und Prestige steht. Wie lange der Abbau des weißen Gesteins in dieser Region weitergehen und ob es eine wirtschaftlich wie ökologisch nachhaltige Entwicklung geben kann, bleibt ungewiss.

Kai Weise studiert nach einigen freien Projekten und Foto-Assistenzen seit 2021 Visual Journalism and Documentary Photography an der Hochschule Hannover. In seinen journalistischen Arbeiten setzt er sich mit Machtstrukturen, Gesellschaftsformen und dem menschlichen Einfluss auf den Klimawandel auseinander. Kai lebt und arbeitet als freiberuflicher Fotograf in Hannover.

Print aus der Arbeit „Carrara Marmor“ von Kai Weise

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