Niccolò Barca

Senegal in the Mirror

Ein mobiles Kino tourt durch Senegal und zeigt ein Drama über Flucht nach Europa. Inmitten politischer Umbrüche werden die Vorführungen zum Spiegel einer Gesellschaft, die sich auf der Leinwand wiederfindet.

Fotografie Niccolò Barca

Text & Interview Sophia Stier

Im April 2024 verließ ein kleiner Bus die senegalesische Hauptstadt Dakar. An Bord befanden sich ein Wanderkino, drei Schauspieler und der Mann, dessen Geschichte den Film “Io Capitano” inspirierte. Der Film handelt von einer modernen Odyssee zweier Jungen, die ihre Heimat Senegal verlassen, um Europa zu erreichen. Die Cinemovel Foundation, ein italienisches Projekt des reisenden Kinos, hatte sich dieser besonderen Mission verschrieben: die Geschichte des Films sollte dorthin zurückkehren, wo sie ihren Ursprung hat – nach Senegal, in die Städte, Dörfer, Schulen und in die Herzen der Menschen. Eröffnet wurde die Tour am 14. April 2024 im Medina-Viertel von Dakar. Hier hatten auch die Dreharbeiten zum Film begonnen. Anschließend zog das mobile Kino durch das ganze Land. Es ging teilweise über unbefestigte Straßen in unterschiedliche Orte bis nach Zinguinchor, der Heimatstadt von Ousmane Sembène, dem “Vater des afrikanischen Kinos”.

Der Fotograf Niccolò Barca hat diese ungewöhnliche Reise begleitet. Seine Bilder zeigen weit mehr als ein Wanderkino, sie halten Emotionen und Reaktionen von Menschen fest, die von der Geschichte des Films bewegt sind, sich mit den Protagonisten identifizieren und darüber diskutieren.  

Kinder spielen Fußball in Mérina Dakhar, nur wenige Meter daneben wird die Filmprojektion aufgebaut. April 2024
Amarà Cisse hilft beim Aufbau einer Leinwand in Kholda, April 2024

Inspiration für „Io Capitano“ war für den Regisseur Matteo Garrone die Geschichte von Mamadou Kouassi. Seine Flucht als Jugendlicher von der Elfenbeinküste bis zur libyschen Küste bildet gewissermaßen die Grundlage für den Film. Im Interview mit emerge gibt Mamadou Einblicke in seine persönliche Geschichte und eine Reise dorthin zurück, wo alles begann.

emerge: Wie hast du den Film „Io Capitano“ wahrgenommen, der auf deiner eigenen Geschichte basiert? Hast du deine Reise wiedererkannt?

Mamadou Kouassi: Ich habe mich sehr stark wiedererkannt. Ein großer Teil des Films ist von meinen eigenen Erlebnissen inspiriert. Aber in Wirklichkeit ist es ein kollektiver Film, denn er erzählt auch die Geschichte vieler anderer Menschen, die auf der Suche nach einer besseren Zukunft sind und aufbrechen, um ihre Träume zu verwirklichen. Einige, wie ich, überleben und schaffen es, ihre Geschichte zu erzählen. Für mich ist dieser Film eine Form der Wiedergutmachung.

Schüler*innen auf dem Weg zur Schule in Thies. Einem Bericht von UNICEF zufolge schließen 4 von 10 Kindern in Senegal die Grundschule nicht ab. April 2024

Welche Reaktionen erhältst du in Bezug auf die Vorführungen und die Fragen der Zuschauer*innen in Senegal?

Den Film an dem Ort zeigen zu können, wo die Geschichte beginnt, war sehr emotional. Bei den Vorführungen waren sehr viele Menschen anwesend – etwa Schüler*innen und Frauen mit Kindern –, die sich in den Szenen des Films wiedererkannt haben. Der Film hat viele Emotionen in ihnen ausgelöst: Einerseits die Hoffnung, dass dieser Film vielleicht alle jene retten kann, die sich nach dem Zuschauen gegen die Reise entscheiden. Andererseits der Ärger darüber, dass so viele ihr Ziel nicht erreicht haben. Unter den vielen Wortmeldungen gab es Schüler*innen, die mich fragten: „Wie können wir in Afrika bleiben?“ Um Menschen vom Weggehen abzuhalten, braucht es Ausbildung, Arbeit und Entwicklung. Aber wir brauchen auch die Freiheit, uns anderswo ein besseres Leben aufzubauen und dieselben Rechte wie Europäer*innen genießen zu können. Dieser Film ist kein Mittel, um Träume einzusperren, sondern eine Warnung vor den Gefahren der Reise – über die in Afrika oft nicht gesprochen wird.

Aufbau der Leinwand in Mboro, April 2024

Wie hast du den Regisseur Matteo Garrone kennengelernt und in welchem Umfang warst du in den Entwicklungsprozess der Filmgeschichte eingebunden?

Ich habe Matteo durch eine Journalistin kennengelernt, die mich nach Rom eingeladen hatte, um über Ausbeutung in der Arbeit und die Lebensbedingungen von Migranten im Süden Italiens zu sprechen – insbesondere in der Provinz Caserta, wo ich seit Jahren in einem Verein aktiv bin. Sie hat meinen Kontakt an Matteo weitergegeben, der mich 2021 anrief. Nach einem ersten Telefonat haben wir uns getroffen, und ich habe ihm meine wahre Geschichte erzählt – von meinem Cousin, von unserer langen und gefährlichen Reise nach Europa, von unseren Träumen. Daraus entstand das Drehbuch, das meine Geschichte mit der eines anderen Jungen, Fofana, verwebt, der heute in Belgien lebt.

Wo lebst du heute? Und wie fühlst du dich dabei, diese persönliche Geschichte auf der großen Leinwand zu sehen?

Heute lebe und arbeite ich in Caserta, das ist etwa eine Stunde nördlich von Neapel. Für mich war dieser Film eine einzigartige und schöne Erfahrung, aber vor allem ist er eine Art Megafon geworden, durch das ich mit der Öffentlichkeit über die Schwierigkeiten von Migrant*innen, über die Reise und  über moderne Sklaverei sprechen kann – und er ist eine Stimme geworden für diejenigen, die diese Hölle durchlebt, aber keine Möglichkeit haben, ihre Geschichte zu erzählen.

Ein Mann sitzt vor einem der letzten unabhängigen Kinos in Senegal. Dakar, April 2024
Fatou Kinè Diouf ist Schülerin am Centre International de Formation Pratique in Mboro, April 2024

Niemand setzt sein Kind in ein Boot, wenn das Land, aus dem man flieht, sicherer ist als das Meer, das man überqueren muss.

Was denkst du darüber, dass der Film viele Menschen dazu bewegen könnte, ihre Meinung zu überdenken, ihr Leben hinter sich lassen und in Europa neu zu beginnen?

Dieser Film warnt alle, die eine solche Reise planen, vor den möglichen Gefahren – aber er wird die Abreise nicht verhindern. Wir können diejenigen nicht aufhalten, die gezwungen sind zu fliehen, um ein besseres Leben zu finden. Stattdessen müssen wir die Migrationspolitik grundlegend ändern, Visa und Aufenthaltsgenehmigungen für diejenigen ausstellen, die sich zum Gehen entscheiden. Der einzige Weg, Todesfälle im Mittelmeer oder entlang der Balkanroute zu verhindern und den Menschenhandel zu stoppen, ist die Bewegungsfreiheit. Niemand setzt sein Kind in ein Boot, wenn das Land, aus dem man flieht, sicherer ist als das Meer, das man überqueren muss. Und es wird nichts bringen, Mauern oder Abschiebezentren wie in Albanien zu errichten, wohin die italienische Regierung Migrant*innen deportiert, deren Asylanträge abgelehnt wurden.

Das Kino als Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzung

Die Cinemovel Foundation, die Kino-Karawane zeigt mehr als Filme – sie schafft Räume für Reflexion und Dialog. Die Auswahl der Filme erfolgt in enger Zusammenarbeit mit lokalen Partnern und unter besonderer Berücksichtigung kultureller Kontexte. In afrikanischen Ländern werden oft historische Filmformate mit Livemusik kombiniert, um das Kinoerlebnis auch für jene zugänglich zu machen, die selten Zugang zu kulturellen Veranstaltungen haben.

Die Reaktionen auf „Io Capitano“ verdeutlichten einmal mehr: Jeder Ort, jedes Publikum bringt seine eigene Geschichte mit – und doch verbinden sich diese Geschichten auf überraschende Weise mit der universellen Sprache des Films. In Senegal, wo der Film in Wolof gezeigt wurde, löste er intensive Diskussionen aus – über Migration, Gerechtigkeit, Identität und Möglichkeiten. Enzo Bavar von der Cinemovel Foundation organisierte die Filmvorführungen auf der Reise. Im Interview mit emerge gibt er Einblicke in die Arbeitsweise der Organisation und berichtet von seinen Eindrücken in Senegal.

Wie wählt ihr die Filme aus, die ihr in Senegal oder generell mit Cinemovel zeigt?

Enzo Bavar: Die Auswahl der Filme und der Orte für die Vorführungen sind zentrale Elemente der Cinemovel-Karawanen. Das ist eine anspruchsvolle Arbeit, die wir durch Recherchen und vertiefende Gespräche mit Projektpartnern leisten. Normalerweise beginnen die Vorführungen auf dem afrikanischen Kontinent mit dem frühen Kino, mit Stummfilmen – manchmal wird die Tonspur direkt von lokalen Musiker*innen live gespielt. Dann folgen Filme aus dem jeweiligen Land und natürlich Animationsfilme für das junge Publikum. In Italien konzentriert sich die Auswahl auf eine Reihe von Titeln – Kurzfilme, lange Dokumentarfilme und Spielfilme –, die aktuelle Themen mit innovativer Filmsprache behandeln.

Der Cinemovel Bus fährt an der Moschee der Göttlichkeit in Dakar vorbei, April 2024

Welche Erfahrungen habt ihr mit unterschiedlichen Reaktionen des Publikums auf denselben Film in verschiedenen Ländern gemacht? Wie war es konkret bei „Io Capitano“?

Jedes Land hat seine eigene Geschichte und auch seine eigene Filmkultur, die uns manchmal unbekannt bleibt, weil sie nationale Grenzen nicht überschreitet. Im Fall von „Io Capitano“ war es naheliegend, den Film in Senegal zu zeigen. Die Protagonisten stammen von dort und der Film wurde auf Wolof gedreht – der meistgesprochenen Sprache im Land –, was ihn für alle zugänglich macht. Bei „Io Capitano“ haben wir gesehen, wie der Film die Zuschauer*innen berührt, Diskussionen anregt und Emotionen auslöst.

Fallou ist ein Kindheitsfreund von Mustapha Fall, einem der beiden Protagonisten des Films "Io Capitano". Pikine, April 2024
Ein Mädchen hilft beim Aufbau für die Filmvorführung in Pikine, April 2024

„Io Capitano“ ist vermutlich ein Paradebeispiel für einen reisenden Film von Cinemovel: Er zeigt eine Odyssee nach Italien und gleichzeitig etwas, das viele Menschen in Senegal oder anderen Ländern bei der Ausreise erleben. Wie vereint der Film all diese Aspekte bei den Vorführungen und Touren von Cinemovel? Und wie fühlt es sich für euch an, diesen Film zu zeigen?

Der Film wurde überall in Senegal sehr engagiert aufgenommen. Er beleuchtet Aspekte der Reise nach Europa, die oft nicht bekannt sind, weil sie nicht gezeigt werden. Um den Film herum entsteht deshalb ein Diskurs, ein Nachdenken über die Reise, über die Gründe zu gehen oder zu bleiben – mit all ihren Folgen. Auch wir, das gesamte Team, das an diesem Projekt beteiligt war, haben den Geschichten gelauscht, die wir unterwegs gehört haben…

… Eine große Frage bleibt: Warum kann ein junger Senegalese nicht wie junge Menschen in Europa frei in der Welt reisen?

Fischerboote am Strand von Mboro. Die Fischergemeinde nördlich von Dakar leidet sehr unter dem starken Rückgang der täglichen Fangmengen. April 2024

Niccolò Barca arbeitet freiberuflich als Fotograf und Journalist in Rom. Seine Arbeiten wurden international veröffentlicht, etwa in The Guardian, Politico, L’Espresso und Internazionale. Aktuell werden Bilder seines Projekts „Senegal in the Mirror“ in Turin und Bologna ausgestellt.

Print aus der Arbeit „Senegal in the Mirror“ von Niccolò Barca

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