Jonas Wresch

Immobilis

Auf den meisten Campingplätzen ist es nicht erlaubt einen festen Wohnsitz zu haben – außer hier. Auf den Plätzen „Sternsee“ und „Erlengrund“ kennt jeder jeden, oft schon seit Jahrzehnten.
Auf dem Platz kennt jeder jeden, oft schon seit Jahrzehnten. Intime Details und Vorgeschichten bleiben da nicht verborgen, trotzdem unterstützen sich die Bewohner gegenseitig.
Die Rentner Bernd und Liselotte Bielke konnten sich das Leben in der Großstadt nicht mehr leisten und zogen 2009 auf den Campingplatz.
Der kleine Dan ruht sich im Wohnwagen seines großen Bruders Jay vom Toben aus.
Die Campingplätze „Erlengrund“ und „Sternsee“ in Wilsche bei Gifhorn, Niedersachsen, wurden zum Naherholungsgebiet erklärt. Seitdem ist es legal hier seinen festen Wohnsitz zu haben.
Nach vielen Jahren im Gaststättengewerbe plagen Liselotte Bielke schwere Hüft-, und Knieprobleme.
Als sie noch jünger waren kamen die Bielkes fast jedes Wochenende aus Berlin nach Gifhorn um ihre Wochenenden beim grillen mit Freunden zu verbringen. Heute leben sie fest auf dem Platz, doch das Grillhäuschen dient eher als Abstellkammer und zum Trocknen der Wäsche.
Von seinem Herzinfarkt vor einigen Jahren hat sich Bernd Bielke wieder so weit erholt, dass er gut für seine kranke Frau Liselotte sorgen kann.
Herausgeputzt für die Weihnachtsfeier sitzt Sascha Deutschendorf auf dem Sofa und streichelt seinen Rottweiler.
Sascha Deutschendorf, ein Freund der Familie, sitzt im Auto und telefoniert. Der 32-jährige ist vor seiner kriminellen Vergangenheit aus Berlin auf den Platz geflüchtet und arbeitet nun bei der Müllabfuhr.
Fay und Dan sind mit ihrem Stiefvater Peter zum Einkaufen gefahren und heben eine leere Gasflasche an. Wenn im Winter viel geheizt werden muss, hält solch eine Flasche nur etwa drei Tage.
Mutter Heidi und ihre Kinder Fay und Dan sitzen vor dem Computer und schauen sich Bilder ihres früheren Hauses an. Im Hintergrund sitzt Stiefvater Peter. Heidi lebt trotz aller Probleme gerne auf dem Platz. Sie will sich von den Nachbarschaftsstreitigkeiten nicht unterkriegen lassen.
Lars kennt sich hervorragen mit Pilzen aus. Nach einem schweren Schicksalsschlag wanderte er mehrere Jahre mit seinem Hund durch Deutschland und schlief dabei viel in Wändern.
Fay und Dan begutachten einen Fliegenpilz im angrenzenden Wald. Zur Pilzzeit gehen sie häufig mit ihren Eltern Pilze sammeln.
Manfred Brandt war viele Jahre Fremdenlegionär. Er genießt nun auf dem Campingplatz „Erlengrund“ seinen Ruhestand.
Bernd Bielke fläzt auf seinem geliebten Fernsehsessel, seine an Diabetes leidende Frau spritzt Insulin.
Sascha Deutschendorf wartet darauf, dass ihm eine Freundin die Haare schneidet.
Am Abend bringt Bernd Bielke seine Frau Liselotte zum Badehäuschen. Sie verliert durch ihre Zuckerkrankheit schnell das Gleichgewicht, er kann sie darum beim Duschen nicht alleine lassen.
Mit Rente und staatlichen Zuwendungen verfügen die Bielkes über rund 1000 Euro im Monat. Nur wegen der günstigen Pacht für den Platz und dem kostenlosen Essen der Tafel können sie sich ihr Auto noch leisten. Sie brauchen es dringend für Arzttermine und Besorgungen.
Herbstlaub sammelt sich auf dem Dach zwischen zwei Gartenhäuschen, die Bielkes als Waschraum, Küche und Esszimmer nutzen.
Um 23:00 Uhr findet diese kleine Feier ein jähes Ende, weil Jays Freunde von ihren Eltern abgeholt werden.
Fay, Jays kleine Schwester, versteckt sich weinend hinter einem Baum.

Man muss schon ein fleißiger Handwerker sein um seinen festen Wohnsitz auf einen der Campingplätze „Sternsee“ oder „Erlengrund“ im niedersächsischen Gifhorn zu verlegen. Besonders in den Herbst- und Wintermonaten gibt es viel zu reparieren. Die 60 ständigen Bewohner der Plätze erweitern die dünnwandige Isolierung ihrer Wohnwägen und Holzhütten, enteisen Wasserleitungen und flicken das ein oder andere Loch in der Dachpappe über ihren Köpfen. Das Zentrum ihres improvisierten Eigenheims ist oft ein einziges Zimmer mit Essbereich und Bett. Daneben entfalten sich satellitenartig Hütten, die als Badezimmer, Waschküche, Grillhäuschen, zum Trocknen der Wäsche oder zum Aufbewahren von Werkzeug dienen. Wer keine eigene Dusche besitzt, nutzt das öffentliche Badehäuschen. Umgeben sind die beiden Plätze von Pferdekoppeln und einem dichten Birkenwald, in dem viele der Camper im Herbst Pilze sammeln.

Die Rentner Lieselotte und Bernd Bielke lösten 2009 ihre Wohnung in Berlin auf, weil sie sich die Miete in der Stadt nicht mehr leisten konnten und zogen in ihr „Mobilheim“ auf den „Erlengund“. Für ihren 30 mal 30 Meter großen Stellplatz am Waldrand, auf dem sie bis dahin nur warme Wochenenden verbrachten, zahlen sie rund 600 Euro pro Jahr. Die Wahl zwischen einer anonymen Sozialwohnung am Rande der Großstadt und ihrem kleinen Reich im Grünen fiel nicht schwer. Im ersten Winter haben sie sich erst an die neue Wohnlage gewöhnen müssen, sagt Bernd, „aber jetzt können wir uns immerhin den Luxus eines Autos leisten, das wäre sonst nicht möglich“. Nach vielen Jahren in der Gastronomie hat Liselotte Knie- und Hüftprobleme, außerdem leidet sie an schwerer Diabetes. Das Auto brauchen sie daher dringend für Arztbesuche und um ihr Essen von der Tafel in Gifhorn abzuholen.

Auch wenn die Wege gekehrt und die Vorgärten meist ordentlich sind, gibt es viele Konflikte

Heidemarie Brigant und ihr Ehemann Peter Wilke kamen mit ihren Kindern Jay, Fay und Dan 2012 auf den Platz „Sternsee“, der vom „Erlengrund“ nur durch einen Maschendrahtzaun getrennt ist. Sie trafen diese Entscheidung ebenfalls aus finanziellen Gründen, verliebten sich aber schnell in die Ruhe auf dem Platz und die Nähe zur Natur. „Man hat hier keine Straßen, keine Autos, gar nichts – für die Kinder ist es optimal“ findet Heidemarie, „außerdem ist immer irgendjemand für dich da wenn du ein Problem hast“.

Auf dem Platz kennt jeder jeden, oft schon seit Jahrzehnten. Intime Details und Vorgeschichten bleiben da nicht verborgen und auch wenn die Wege gekehrt und die Vorgärten meist ordentlich sind, gibt es viele Konflikte. Häufig kommt es zu massiven Eingriffen in das Privatleben, zu Beleidigungen, Vorwürfen und Klagen, regelmäßig wird die Polizei eingeschaltet.

Aus diesem Grund bilden sich schnell Grüppchen, die beim allabendlichen Bier von ihren Problemen sprechen. Schwierigkeiten mit anderen Bewohnern, Stress mit ihren Kindern und geschiedenen Partner. Sie sprechen von sozialer Isolation und tragischen Verlusten.

„Unser Alltag war von Schlägen und Suff geprägt“, erinnert sich Heidemarie und tut alles dafür, dass ihre Kinder eine bessere Kindheit haben. Obwohl sie und Peter unter den anderen Dauercampern enge Freundschaften geschlossen haben, leiden sie unter der oft angespannten Stimmung und haben sich dafür entschieden den Platz so bald wie möglich wieder zu verlassen. Für viele andere Camper wird die Übergangs- oft zur Dauerlösung.

Jonas Wresch ist ein deutscher Fotograf der zwischen Kolumbien und Deutschland lebt und arbeitet. 2009 begann er ein Fotografiestudium an der Hochschule Hannover und absolvierte daraufhin ein Praktikum bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er arbeitet als freier Fotograf unter anderem für Stern, Cicero, die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Audi und die Volkswagenstiftung. Seine Arbeit „Immobilis“ wurde während des Lumix Festivals für Jungen Fotojournalismus 2012 in Hannover ausgestellt und gewann den „Deutschen Jugendfotopreis“ (erster Preis in der Kategorie „unterwegs“) und beim „International Press Photo Festival” in Vilnius, Litauen, (erster Preis in der Kategorie “Homework”). 2014 wurde seine Arbeit „Potosí’s kleine Wächter“ beim Lumix Festival ausgestellt und er für die Joop Swart Masterclass nominiert. Jonas Wresch wird seit 2012 von der Agentur Focus vertreten.

www.jonaswresch.com