Martin Friedrich

States of the Blonde Hedgehog

Fünfzehn Kilometer vor der französischen Küste, inmitten des Ärmelkanals, liegt die Insel Alderney. Auf nur acht Quadratkilometern leben hier etwa zweitausend Insulaner – und blonde Igel.

Bis heute sind die Spuren der verschiedenen Besatzungen der Insel, die in den vergangenen Jahrhunderten stattfanden, im Alltag deutlich sichtbar. Das Leben findet auf den Überresten europäischer Machtpolitik statt, sodass die Insel zu einer Art Lummerland geworden ist; stolz auf die eigene politische Unabhängigkeit und gleichzeitig die Augen verschlossen vor seiner Abhängigkeit von einem sich wandelnden Europa.

Alderney war aufgrund seiner geostrategischen Lage schon immer den Begehrlichkeiten europäischer Großmächte ausgesetzt. Aus dem 3. Jahrhundert stammt ein Fort, das die Römer errichteten. Unter französischer und anschließend britischer Herrschaft wurde die Insel weiter befestigt. Zuletzt war sie im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen besetzt, kurz vor deren Invasion im Jahr 1940 war nahezu die gesamte Insel evakuiert worden.

Während der Besatzung errichtete die NS-Organisation Todt vier Konzentrations- und Arbeitslager und ließ die gesamte Insel mit Bunkern und Befestigungsanlagen als Teil des Atlantikwalls ausbauen. Über 700 der Inhaftierten wurden ermordet oder starben bei der Zwangsarbeit. Zu Kampfhandlungen kam es jedoch weder während des Krieges, noch bei der Befreiung Alderneys acht Tage nach Kriegsende durch die Alliierten. Die Nachricht der Kapitulation war bei den, seit 1944 abgeschnittenen, deutschen Wehrmachtssoldaten schlichtweg noch nicht angekommen.

Heutzutage ist die Insel eine unabhängige britische Kronbesitzung und gehört weder zum Vereinigten Königreich, noch zur Europäischen Union. Trotzdem fühlen sich die meisten Einwohner England zugehörig, sprechen Englisch und bezahlen mit englischen Pfund.

Alderney ist ein Mikrokosmos, der die kontinentale Welt wie eine Miniatur abbildet

Auregnais verlor seit der viktorianischen Zeit an Bedeutung und starb mit Rückkehr der evakuierten Bevölkerung zum Ende des Zweiten Weltkriegs aus. Vor allem die Kinder wuchsen während des Exils in Großbritannien mit Englisch auf. Gleichzeitig zeugen noch immer viele Familien- und Straßennamen vom französischen Einfluss; Spuren des normannischen Dialekts findet man in Ortsbezeichnungen wieder.

Ruby, Miss Alderney 2015 und ihre “Maid Of Honor” Shauna.
Die ehemaligen Coast Guard Cottages.

Alderney ist ein Mikrokosmos, der die kontinentale Welt wie eine Miniatur abbildet: es gibt einen Hafen, eine Eisenbahnlinie und einen Flughafen. Man findet eine Schule und ein Krankenhaus, es gibt zwei Polizeiautos und mehrere Pubs. Auch ein lokaler Radiosender sowie eine eigene Misswahl sind vorhanden. Und mit den „States of Alderney“ besitzt die Insel sogar eine Regierung mit eigenem Präsidenten.

Die methodistische Kirche von Alderney.
Ken Baker, Lokführer der Alderney Railway.
Mülldeponie in einem stillgelegten Steinbruch.
Das viktorianische Fort Grosnez.
Emma beim Hill Climb Race.

Trotz der Besatzung durch die Wehrmacht ist Alderney in Deutschland nahezu unbekannt. Dabei sind die Narben, die diese hinterlassen hat in der Landschaft deutlich sichtbar, so dass die Bevölkerung täglich ihrer Geschichte begegnet. Bis heute sind zahlreiche Relikte der Besatzungszeit zu finden, zu drastisch waren die Eingriffe, zu massiv die Befestigungsanlagen. Langsam erst beginnt die Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Vergangenheit, es gibt kaum Orte der Erinnerung. Stattdessen werden die Bunker zur Vogelbeobachtung, als Partyraum oder Ferienhäuschen genutzt. Zudem gibt es keinerlei Anzeichen der Wiedergutmachung oder eine Form der Aufarbeitung durch Deutschland.

Und so bleibt Alderney, fünfzehn Kilometer vor der Küste Europas, eine Insel auf der Suche nach ihrer eigenen Identität.

Martin Friedrich (*1975 in München) ist Fotograf und Filmemacher. Er studierte an der Staatlichen Fachakademie für Fotodesign München. 

www.martinfriedrich.com