Helge Krückeberg

Geblieben

Die größte mennonitische Gemeinde Russlands liegt im sibirischen Dorf Solnzewka. Ihr Weg dort hin war lang und verschlungen.

Zwischen der russischen Taiga und der kasachischen Steppe liegt das Dorf Solnzewka, 150 km westlich von Omsk. Wären da nicht die inselartigen Birken-haine, könnte man die weitläufige Schwarzbodenlandschaft getrost als karg bezeichnen. Kein Berg, nicht einmal ein Hügel, weit und breit.

Der Sommer steht vor der Tür, und für Artur Hildebrandt, Andreas Siemens und all die anderen deutschstämmigen Mennoniten beginnt die arbeitsreichste Zeit des Jahres.

Die Felder hinter ihren Häusern, aber auch die der ehemaligen Kolchose müssen gepflügt und bestellt werden. So, wie sie es seit Jahrzehnten tun, und so, wie es ihre Vorfahren schon vor über 100 Jahren getan haben. Ihr Weg bis Sibirien war lang und verschlungen. Im 16. Jahrhundert folgten sie zunächst Menno Simons, der als Begründer der ersten freikirchlichen Glaubensgemeinschaft gilt. Er führte sie von den Niederlanden und Norddeutschland nach Westpreußen, um der gewalttätigen Verfolgung durch die Römisch-Katholische Kirche zu entkommen.

Weil sie dort aufgrund eingeschränkter Bürgerrechte später kein Land ankaufen durften, erschien ihnen die Einladung der Kaiserin von Russland, Katharina II., wie ein Geschenk Gottes. Um 1790 siedelten sich die zwei Mutterkolonien Chortitza und Molotschna in der Ukraine an. Dort verbrachten sie die wirtschaftlichen und göttlichen „Goldenen Jahre“ ihres Daseins. Die freie Ausübung ihrer Religion war ihnen gestattet, das Manifest der Kaiserin erkannte selbst das Prinzip ihrer Wehrlosigkeit an.

Was sie sich erhoffen und wofür sie beten ist Gottes Gnade.

Schlicht der Mangel an fruchtbarem Land (die Kolonien hatten sich inzwischen weit ausgedehnt), erwog die Vorfahren von Artur Hildebrandt und Andreas Siemens die Ukraine Anfang des 20. Jahrhunderts Richtung Osten zu verlassen. An Sibirien gewöhnten sie sich schnell, wenngleich sie dem postrevolutionärem Russland gegenüber einschneidende Abstriche in ihrer Lebenshaltung machen mussten, und eine Zeit lang ihren Glauben nur im Verborgenen leben durften. Auch das konnte sie nicht erschüttern, und seit dem führten sie ein schlichtes, aber zufriedenes Leben zwischen Arbeit und dem tiefen Glauben an das Wort Gottes.

Gorbatschows Perestroika löste Ende der 1980‘er Jahre die nächste Welle in der mennonitischen Migrationsgeschichte aus. Aufgrund der katastrophalen wirtschaftlichen Zustände, wählten ca. 350 Familien – und damit weit über die Hälfte der Einwohner von Solnzewka – den Weg zurück in das Land, in dem vor 400 Jahren ihre unfreiwillige Reise begann.

Doch es gab einen Fels in der Brandung, die drohte, das ganze Dorf in den weltlichen Westen zu spülen. Der Gemeinde-Älteste Philipp Friesen bestand darauf, dass es Gottes Wille war, der die Mennoniten nach Russland gebracht hatte, und diesem Willen wollte er nicht widersprechen.

Die Gemeinde von Solnzewka zählt heute 130 „Glieder“ und 160 Kinder, und damit gilt sie als die größte mennonitische Gemeinde in Russland. Sie sind die Gebliebenen, eine Insel, so wie die Birkenhaine zwischen dem Dorf und den Weizenfeldern. Was sie zum Leben brauchen, haben sie. Was sie sich erhoffen und wofür sie beten ist Gottes Gnade.

Die Menschen in Solnzewka sind weit mehr als bibelfeste Bauern. Es sind Menschen die es durch die Kraft ihres Glaubens schaffen, ein Dorf am Leben zu erhalten.

Helge Krückeberg, geboren 1971, Ausbildung zum Vermessungstechniker, Studium an der FH Hannover (Fotojournalismus und Dokumentarfotografie) von 1999-2008, seitdem freischaffender Fotograf in Hannover für verschiedene Magazine und Unternehmen.

www.helgekrueckeberg.de

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